Titel: | Ein Beitrag zur Drahtseilfrage. |
Autor: | P. Stephan |
Fundstelle: | Band 331, Jahrgang 1916, S. 151 |
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Ein Beitrag zur Drahtseilfrage.
Von Professor P. Stephan, Altona.
STEPHAN: Ein Beitrag zur Drahtseilfrage.
Auf Seite 17 und 18 des vorliegenden Jahrganges von D. p. J. machte Verfasser
nähere Angaben über den zeitlichen Abfall der bei einer bestimmten Dehnung eines
Leder- oder Gewebestückes zur Aufrechterhaltung dieser Dehnung erforderlichen Kraft.
„Die beschriebene Erscheinung der Spannungsabnahme bei gleichbleibender
Dehnung beruht darauf, daß alle organischen Fasern eine sehr deutlich
hervortretende Ermüdung zeigen.“ Während der Drucklegung dieses Satzes kam
Verfasser zu dem Schluß, daß diese Einschränkung auf organische Fasern unzutreffend
sei. Es wurden deshalb entsprechende Versuche an einem Aufzugseil vorgenommen.
Das Seil bestand aus sechs Litzen von je 24 Drähten, deren Durchmesser 0,6 mm
betrug. Die Litzen waren wie üblich um eine kräftige Hanfseele herumgeschlagen. Die
Zerreißfestigkeit des Drahtmaterials war von der liefernden Firma zu 120 kg/mm2 angegeben worden. Bei dem Querschnitt der Drähte
von insgesamt 40,7 mm2 sollte also die
rechnerische Zerreißkraft 4900 kg betragen; die tatsächliche ergab sich zu etwa 92
v. H. dieses Wertes. Bei der Prüfung wurde jeweils eine bestimmte, nicht gemessene
Dehnung eingestellt und dann der Abfall der Spannkraft mit der Zeit beobachtet.
Dabei wurden die Reihen der nachstehenden Zusammenstellung erhalten, deren
eingeklammerte Werte durch Interpolation gefunden worden sind. Bemerkt sei, daß
nicht alle aufgenommenen Zahlen in die Zusammenstellung eingetragen sind;
hauptsächlich wurden die in der Nähe der eingeklammerten Werte gelegenen
ausgelassen.
Tabelle 1.
Versuch 1
Versuch 2
Versuch 3
Versuch 4
Zeit Kraft kg
Zeit Kraft kg
Zeit Kraft kg
Zeit Kraft kg
0 Min. 1100
0 Min. 2100
0 Min. 2600
0 Min. 3570
⅓ „ 1037
⅓ „ 1850
⅚ „ 2498
1 „ 3367
1¾ „ 1006
1½ „ 1790
1½ „ 2477
2 „ 3329
3 „ 995
3 „ 1769
( 3 „ 2460)
3 „ 3309
6⅓ „ 987
5⅚ „ 1752
5 „ 2449
6 „ 3277
16 „ 972
17½ „ 1725
141/4 „ 2426
15 „ 3237
44 „ 3196
(2⅓ Std. 944)
( 2⅓ Std. 1671)
(2⅓ Std. 2363)
(2⅓ Std. 3145)
3 „ 940
6,4 „ 2331
22⅓ „ 912
30,4 „ 1593
31 „ 2260
26 „ 3026
441/12
„ 901
(2,8 Tg. 895)
(2,8 Tg. 1553)
(2,8 Tg. 2224)
( 2,8 Tg. 2981)
5,0 „ 1527
5,0 „ 2199
5,0 „ 2927
10,0 „ 2900
Die Reihen lassen sich von der dritten Minute an mit ausreichender Annäherung durch
hyperbelähnliche Kurven darstellen, deren Ordinaten (Spannkräfte bzw. Spannungen) in
einer arithmetischen Reihe abnehmen, während die zugehörigen Abszissen (Zeiten)
derart steigen, daß die aufeinander folgenden Abschnitte eine geometrische Reihe mit
dem Exponenten 1,25 bilden. Man erhält so gleichen Spannungsabfall in den
Zeitabschnitten zwischen
3 Min. – 2⅓ Std. – 2,8 Tag. – 2¾ Monat. – 6 Jahr.,
und zwar beträgt der Spannungsabfall in jedem Intervall im
Mittel 5 v. H. der 3 Min. nach Einstellung bestimmten Spannung. Der Anfangswert, zur
Zeit 0 liegt je nach der Geschwindigkeit der Einstellung, die bei den ersten beiden
Reihen naturgemäß eine schnellere war als bei den beiden letzten, um rund 10 bzw.
7,5 v. H. des 3-Minutenwertes höher.
Man erkennt, daß hier ebenso wie auf S. 18 dieses Jahrganges auseinandergesetzt
wurde, gewisse bleibende Dehnungen schon bei verhältnismäßig niedriger Beanspruchung
auftreten, – in der Reihe 1 entspricht der 3-Minutenwert etwa der bei Lastenaufzügen
gebräuchlichen fünffachen Sicherheit. Umgekehrt ist zu sagen, daß, wenn man bei
beständiger Einwirkung derselben Zugbelastung nur eine bestimmte, gering bleibende
Dehnung haben will, z.B. die bei Versuch 1 eingestellte, die Beanspruchung so klein
gewählt werden muß, daß sie erst beim Erreichen der vorher festgelegten Lebensdauer
des Seiles den am Ende der Reihe stehenden Wert erhält. Verlangt man also, daß die
betreffende bleibende Dehnung erst nach sechsjähriger Liegedauer eintritt, so muß
die Spannung, unter der das Seil steht, um 20 v. H. geringer sein als die oben nach
dreiminutlicher Anstrengung gemessene. Da der Spannungsabfall mit der Zeit immer
geringer wird, so muß die Spannung 17,5 v. H. kleiner sein, wenn die Liegedauer 1⅙
Jahr vorgeschrieben wird, und 15 v. H. bei 2¾ Monaten.
Die vorstehende Untersuchung läßt annehmen, daß jene Erscheinung, die an erwärmten
Metallen schon längst untersucht ist, eine allgemeine Eigenschaft aller Materialien
ist, die nur bei den Metallen erst mit steigender Temperatur deutlicher hervortritt.
Dieser Schluß steht in Einklang mit der alten Erfahrung, daß bei schneller
Durchführung eines Zerreißversuches eine etwas höhere Festigkeit, aber geringere
Dehnung erhalten wird als bei langsamer, etwa 5 bis 10 Min. in Anspruch nehmender.
Zur zahlenmäßigen Feststellung des Einflusses der Zeit wurde ein weicher, zur
Beseitigung etwa vorhandener Spannungen ½ Std. lang geglühter und dann auf 19,3 mm ∅
abgedrehter Flußeisenstab einer langzeitigen Zugbeanspruchung unterworfen.
Absichtlich wurde die Spannung so gewählt, daß sie mit Sicherheit unter der
Streckgrenze des Materials blieb. Die näheren Angaben enthält die folgende
Zusammenstellung.
Tabelle 2
Zeit
Spannkraft
Spannung
0
War nicht genauzu messen
–
1 Min.
3274 kg
1119,5 at
2 „
3258 „
1114,4 „
4 „
3252 „
1112 „
8 „
3250 „
1111,5 „
17,6 Std.
3237 „
1106 „
67,75 „
3199 „
1094 „
119,65 „
3167 „
1079 „
164,15 „
3143 „
1075 „
Man bemerkt auch hier eine mit der Zeit immer wachsende Spannungserniedrigung bei
gleichbleibender Dehnung, die freilich im Verhältnis sehr viel geringer ist als die
an dem Drahtseil beobachtete. Vielleicht ist die Ermüdung um so größer, je mehr und
öfter das betreffende Stück vorher über die Streckgrenze hinaus beansprucht worden
war. Es muß erwähnt werden, daß die obigen Zahlenwerte mit einer gewissen
Unsicherheit behaftet sind insofern, als die Temperaturänderung der 4 m hohen, aus
Gußeisen und Flußeisen zusammengesetzten Zerreißmaschine sich gelegentlich deutlich
bemerkbar machte. Die angeführten Zahlen sind aber bei wenigstens annähernd gleicher
Temperatur aufgenommen worden.
Die obigen Angaben betreffen die reine Zugbeanspruchung von Drahtseilen und
Eisenstäben. Ueber die Biegung von Seilen und den dabei deutlich hervortretenden
Einfluß der Reibung der einzelnen Drähte und Litzen aneinander hat Verfasser
gelegentlich einer Buchbesprechung (S. 130 bis 132 dieses Jahrganges) schon einige
Mitteilungen gemacht. Es sei an dieser Stelle nur folgendes hervorgehoben:
Bekannt ist, daß bei der Biegung eines dünnen Bandes oder Drahtes von der Stärke δ mm über eine Scheibe oder Rolle von dem Durchmesser
D mm die Biegungsspannung
\sigma_b=\frac{1}{\alpha}\cdot \frac{\delta}{D} kg/mm2 zu der Zugbeanspruchung
\sigma_z=\frac{P}{F} kg/mm2
hinzukommt, worin α die Dehnungsziffer des betreffenden
Materials in mm2/kg darstellt. In diese Rechnung
wird für Stahl der aus häufigen Zugversuchen mit hinreichender Genauigkeit
ermittelte Wert a = 1 : 20000 mm2/kg eingesetzt. Bei Drahtseilen haben nun die
Zugversuche durchweg ergeben, daß wenn F=i\cdot
\frac{\pi}{4}\,\delta^2 mm2
Querschnitt des Drahtseiles aus i Drähten angesehen
wird, a'=\frac{1}{\beta}\cdot \alpha beträgt, und zwar ist zu
setzen für
Litzenseile mit dünnen Drähten (z.B. Aufzugseile)
\beta\sim\frac{1}{4} (Bach),
Litzenseile mit dicken Drähten (z.B. Zugseile von
Drahtseilbahnen) \beta=\frac{3}{8} (Bach),
Spiralseile je nach Konstruktion β = 0,8 ÷ 0,6 (Verfasser D. p. J. 1909).
Nun kann es in der Tat fraglich erscheinen, ob diese aus Zugversuchen gewonnenen
Werte von β mit Berechtigung in die Biegungsgleichung
eingeführt werden dürfen, und die folgende Ueberlegung soll dazu dienen, die Grenze
festzustellen, bei der vorläufig die Versuchsunterlagen zur Entscheidung der Frage
nicht ausreichen.
Unter Einwirkung einer reinen Zugkraft entsteht die verhältnismäßig große Dehnung
eines Drahtseiles dadurch, daß die in den einzelnen Querschnitten der gewundenen
Drähte auftretenden Verdrehungs- und Biegungsspannungen eine wesentlich größere
Formänderung der ganzen Seillänge hervorrufen als die reine Zugbeanspruchung. Die
Erklärung gilt in gleicher Weise für Spiral- und Litzenseile. Freilich haben in
Spiralseilen alle gleich gestalteten Querschnitte derselben Drahtlage auch dieselbe
Verdrehungs-, Biegungs-, Schub- und Zugbeanspruchung, während in Litzenseilen die
Beanspruchungen sich mit der Lage des Drahtelementes in der Litze und im Seil
ändern. Da nun im Litzenseil Drahtelemente sehr verschiedener Anstrengung dicht bei
einander liegen, so tritt unter reiner Zugbelastung schon eine gewisse Verschiebung
der einzelnen Drähte gegeneinander auf, und die Drähte der Litzenseile erfahren
infolge ihrer mehrfachen Verwindung eine größere Verschiebung, so daß β erheblich kleiner ist als bei den Spiralseilen (vgl.
oben).
Wegen der ziemlich leichten Verschiebbarkeit und freien Beweglichkeit der Drähte
von Litzenseilen kann näherungsweise jedes Drahtelement
als frei angesehen werden – bei Spiralseilen geschlossener Bauart schon nicht mehr
–, so daß die obigen Formeln und Darlegungen auf jeden einzelnen Draht angewandt
werden können. Dieser Satz bildet die Grundlage der zurzeit üblichen
Seilberechnung.
Erfährt nun ein stabförmiger Körper zu der vorhandenen Zugbeanspruchung noch eine
Biegungsbeanspruchung, so stellen sich nach der in der technischen Praxis allein
benutzten Navierschen Vorstellung die vorher parallelen
Querschnitte schräg zueinander. Ist die Biegung gering im Verhältnis zum Zug, was
z.B. bei den Tragseilen von Drahtseilbahnen zutrifft, so wird auf der inneren Seite
der Biegung die Zugspannung teilweise rückgängig gemacht und auf der äußeren Seite
entsprechend erhöht.
Es ist nun kein Grund einzusehen, weshalb diese teilweise Aenderung der vorhandenen
„Zug“spannung, die sich in Wahrheit aus Zug-, Schub-, Biegungs- und
Verdrehungsspannungen zusammensetzt, einem anderen Gesetz folgen soll, als die
sogenannte reine Zugspannung des Seiles. Die Uebereinstimmung der Dehnungsgesetze
wird vielmehr mindestens so lange bestehen, wie auf der Innenseite der Biegung
überhaupt noch Zugspannungen vorhanden sind. Erst wenn die Biegungsspannung
überwiegt, d.h. von σb
≥ σz an, sind die Bachschen Zahlen β nicht
ganz sicher. Die gleiche Unsicherheit besteht für geschlossene Spiralseile, wo die
obige Annahme der freien Beweglichkeit aller Drähte unzutreffend ist. Bei ihnen wird
also die Biegungsanstrengung außen gelegener Drahtelemente eine höhere sein, als die
übliche Rechnung angibt, was wohl zuerst in einem dem kaiserlichen
Handelsministerium in Wien 1911 vorgelegten Gutachten des Verfassers eingehender
erörtert worden ist.
Die obige Ueberlegung veranlaßte den Verfasser 1909 in D. p. J. S. 802 dazu, die aus
Zugversuchen ermittelte Dehnungsziffer von Tragseilen für Drahtseilbahnen von
vornherein als die für die Berechnung der Biegungsbeanspruchung maßgebende Zahl zu
bezeichnen. Verfasser übersah dabei allerdings die vorstehende Einschränkung, deren
Einfluß freilich zurzeit nicht abzuschätzen ist.
Es war nun vor kurzem möglich, als eine Art Gegenprobe den folgenden Versuch
anzustellen. Ein schon geraume Zeit gebrauchtes Litzenseil aus 168 Drähten von je
0,6 mm ∅, dessen Stahlmaterial nach Angabe der liefernden Firma die Zugfestigkeit
120 kg/mm2 besitzt, wurde mit etwa 500 kg belastet
und so über einen Zapfen von nur 45 mm ∅, den es zur Hälfte umfaßte, langsam
hinweggezogen. Die Seilsteifigkeit machte sich dabei derart bemerkbar, daß der
mittlere Durchmesser der Innenseite des Seiles etwa 60 mm betrug.
Als rechnungsmäßige größte Zugspannung erhält man dann gemäß der üblichen
Berechnungsweise mit der Bachschen Ziffer ⅜, die für das
vorliegende dünndrähtige Seil schon als reichlich hoch angesehen werden kann:
\sigma=\frac{500}{168\cdot\frac{\pi}{4}\cdot
0,6^2}+\frac{3}{8}\cdot 20000\cdot \frac{0,6}{60}=10,5+75=85,5
kg/mm2
also das 0,71-fache der rechnerischen Bruchfestigkeit des
Seiles. Diese Beanspruchung liegt noch etwas unter der Streckgrenze des
Drahtmaterials, und tatsächlich war nach Beendigung des Versuches an dem Seil nicht
der geringste Schaden zu erkennen. Es ist seitdem schon wieder einige Wochen als
Aufzugseil in Betrieb, ohne daß bisher auch nur ein einziger Draht gerissen ist.
Setzt man dagegen in die obige Rechnung den vollen Wert der Elastizitätsziffer des
Drahtmaterials ein, wie es von der Karlsruher Schule verlangt wird, so erhält
man als Beanspruchung
σ = 10,5 + 200 = 210,5 = 1,76 · 120
kg/mm2.
Der Betrag ist um 76 v. H. größer als die rechnerische, in der
Praxis nie erreichte Festigkeit des Seiles! Dieser einfache Versuch dürfte somit die
qualitative Richtigkeit der Bachschen Ziffer nachgewiesen
haben, deren genauer Wert vielleicht je nach der Bauart des Seiles und dem
Verhältnis der beiden Beanspruchungen zueinander eine Abänderung nach der einen oder
anderen Richtung erfahren kann.