Titel: | Eine Hauptformel der Kreiseltheorie in einfacher Herleitung. |
Autor: | Otto Schaefer |
Fundstelle: | Band 326, Jahrgang 1911, S. 401 |
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Eine Hauptformel der Kreiseltheorie in einfacher
Herleitung.
Von Dr.-Ing. Otto Schaefer,
Hamburg.
Eine Hauptformel der Kreiseltheorie in einfacher
Herleitung.
Die Theorie des Kreisels ist nicht nur recht schwierig, sondern auch sehr
umfangreich – zwei Umstände, die sie allen denen unzugänglich gemacht haben, welche
entweder nicht die genügende mathematische Schulung oder aber nicht genug Zeit
besitzen, um sich in dieses Gebiet einzuarbeiten. Andererseits machen die
Anwendungen des Kreisels heutzutage so viel von sich reden, daß jeder Ingenieur und
mancher Laie mit technischen Interessen sich gern einen Einblick in seine
Wirkungsweise verschaffen würde. Diesem Wunsche soll der folgende Aufsatz
entgegenkommen, in dem eine zur Beurteilung sehr vieler Fälle ausreichende Formel
unter Benutzung allgemein bekannter Grundgesetze der Mechanik hergeleitet wird.
Besonders ist auf die Anschaulichkeit Wert gelegt worden, weil man durch sie nicht
nur das Gebiet beherrscht, für welches man die genaue Theorie besitzt, sondern auch
die Nachbargebiete, für welche die gefundenen Ergebnisse zwar nicht streng gelten,
aber doch ein praktisch oft ausreichendes Abschätzen gestatten. Ein weiterer Zweck
dieser einleitenden Orientierung ist der, dem Leser die Entscheidung zu ermöglichen,
ob er sich ausführlicher mit der Kreiseltheorie beschäftigen will oder ob ihm die
Mühe des tieferen Eindringens größer als der zu erwartende Nutzen erscheint.
Textabbildung Bd. 326, S. 401
Fig. 1.
Der Kreisel möge die Form eines Schwungrades besitzen, dessen Masse vorwiegend im
Kranz liegt und in der Mittellinie desselben vereinigt gedacht werden kann. Diess
Schwungrad möge sich mit der Winkelgeschwindigkeit w1 um seine Achse drehen und außerdem eine zweite
Drehung um die Achse PP ausführen, was etwa dadurch
entstehen kann, daß sich das ganze Gestell, auf dem das Schwungrad gelagert ist,
herumdreht. Die Winkelgeschwindigkeit dieser zweiten Drehung, welche man als
Präzession bezeichnet, sei w2. Dann treten, obwohl beide Winkelgeschwindigkeiten ihre Größe nicht
verändern, abgesehen von der Zentripetalbeschleunigung, noch andere Beschleunigungen
in den einzelnen Teilen des Schwungrades auf, zu deren Erzeugung gewisse Kräfte
erforderlich sind. Es wird sogar nur nötig sein, diese Beschleunigungen zu
ermitteln, um aus ihnen durch Multiplikation mit den zugehörigen Massen die
unbekannten Kräfte zu finden. Die Bewegung eines Massenteilchens d m, das sich zuerst in B (Fig. 1) befinden möge, erfolgt auf
einer Kugeloberfläche, die man aber als eben betrachten darf, so lange es sich um
eine kleine, in der Zeit d t erfolgende Bewegung
handelt. Wenn nur das Schwungrad liefe, müßte das Massenteilchen von B nach C gelangen, wenn
nur das Gestell gedreht würde, müßte es von B nach A wandern, bei gleichzeitiger Wirkung beider
Bewegungen, also nach dem Gesetz vom Parallelogramm der Bewegungen, von B nach E gekommen sein. Da
sich das Massenteilchen aber in D befindet, so muß in
der Richtung E D eine Beschleunigung gewirkt haben,
unter deren Einfluß das Massenteilchen in der Zeit d t
die Strecke E D zurückgelegt hat. Bezeichnet man diese
Beschleunigung mit p, so ist
E\,D=p\,\frac{d\,t^2}{2}
Die Strecke E D läßt sich mit
Hilfe geometrischer Beziehungen berechnen. Da E C
gleich A B sist, so ist auch
E D = A B – C D.
Unter Einführung eines Winkels α, der von M F ab gemessen werden soll, und des Radius r, ergibt sich für den Abstand des Punktes B von der Achse P P der
Wert r cos α. Die
Winkeldrehung um die Achse P P ist in der Zeit d t gleich w2
d t also die Strecke
A B = r cos α
w2
d t.
Der Abstand des Punktes C ist r cos (α + d α), daher die
Strecke
C D = r cos (α + d α) w2
d t.
Daraus folgt
E D = r w2d t (cos α – cos (α + d α).
Wenn man cos (α + d α) nach einer bekannten Formel entwickelt, cos d α = 1 und sin d α = 0
setzt, so ergibt sich
E\,D=p\,\frac{d\,t^2}{2}=r\,w_2\,d\,t\,\mbox{sin}\,\alpha\,d\,\alpha
p=2\,r\,w_2\,\mbox{sin}\,\alpha\,\frac{d\,\alpha}{d\,t} und
mit \frac{d\,\alpha}{d\,t}=w_1
p = 2 r
sin α • w1
• w2.
Aus der Beschleunigung p findet
man die an jedem Teilchen angreifende Kraft d k durch
Multiplikation mit d m, also
d k = 2 r sin α w1
w2 • d m.
Die Verteilung dieser Kräfte über den Umfang erfolgt nach dem
Sinusgesetz, die Kraft ist im Punkte F gleich Null, in
G ein Maximum nach rechts, in H wieder Null, in K ein
Minimum, d.h. ein größter Wert nach links. Alle diese Kräfte bilden, mit ihren
Hebelarmen multipliziert, ein Drehmoment, dessen Achse sowohl auf der Kreiselachse
wie auch auf der Achse P P senkrecht steht, um welche
sich das ganze Gestell dreht. Schon jetzt kann man erkennen, daß die Ausdrucksweise,
der Kreisel habe das Bestreben, seine Drehachse beizubehalten, nicht richtig ist.
Der Kreisel setzt der Bewegung um die Achse P P
durchaus keinen Widerstand entgegen, wohl aber entwickelt er ein Moment, das
senkrecht zu dieser Achse steht. Die Größe dieses Moments kann nun auch zahlenmäßig
festgestellt werden, da nur jede Kraft d k mit dem
zugehörigen Abstand r sin α multipliziert und diese Produkte summiert zu werden brauchen. Setzt man
für d k den obigen Ausdruck, so hat man für das Moment
M
M=\int^_0^{2\,\pi}\,r\,\mbox{sin}\,\alpha\,.\,2\,r\,\mbox{sin}\,\alpha\,w_1\,w_2\,d\,m.
Das Massenteilchen hat denselben Querschnitt f wie der Schwungradkranz und eine Länge r d α. Daher ist
d\,m=\frac{\gamma}{g}\,f\,.\,r\,.\,d\,\alpha.
Dann wird das Moment, wenn man die konstanten Faktoren gleich
vor das Integral setzt
M=2\,\frac{\gamma}{g}\,f\,r^3\,w_1\,w_2\,\int_0^{2\,\pi}\,\mbox{sin}^2\,\alpha\,d\,\alpha.
Der Wert des Integrals ist π und
daher das Moment
M=2\,\pi\,\frac{\gamma}{g}\,f\,r^3\,w_1\,w_2.
Beachtet man, daß
\frac{\gamma}{g}\,f\,2\,r\,\pi die ganze Masse und
\frac{\gamma}{g}\,f\,2\,r\,\pi\,.\,r^2 das Trägheitsmoment
J des Schwungrades ist, so erhält man den sehr
einfachen Ausdruck
M = J
w1
– w2.
Dieses Moment sucht den Kreisel derart zu drehen, daß seine
Achse parallel zur Präzessionsachse P P wird und daß
Kreiseldrehung und Präzession im selben Sinne erfolgen. Der entwickelte Ausdruck
gilt nur für senkrechte Lage der beiden Achsen, in allen anderen wird das Moment
geringer und verschwindet bei erreichtem Parallelismus.
Einige Beispiele mögen die Anwendung der Formel kurz erläutern. Da ein Moment immer
auftritt, wenn ein umlaufendes Rad noch eine zweite Drehung ausführt, so wird es
bemerkbar sein, wenn ein Fahrzeug mit laufenden Rädern durch eine Kurve fährt oder
wenn ein Drehkran sich dreht, während der Drehwerksmotor oder der Hubmotor läuft. In
diesem Fall gibt folgende Rechnung über die Größe des Moments Auskunft. Das
Trägheitsmoment des Ankers sei 0,3 kgm2, seine
minutl. Umdrehungszahl 1000, also w1 = 104,7, der Kran vollführe eine Umdrehung in
einer halben Minute, dann wird w2 = 0,052 und
M = 0,3 • 104,7 • 0,052 = 1,63
mkg,
ein Wert, der bei einem Eigengewicht des Motors von 670 kg
noch keine bemerkbare Wirkung ausüben kann.
Da sämtliche umlaufenden Räder auf der in Umdrehung befindlichen Erde an deren
Bewegung teilnehmen, so müssen sie auch solche Momente ausüben, welche freilich
wegen der geringen Winkelgeschwindigkeit der Erde nur gering sein können. Durch
Anwendung eines sehr schnell – 20000 Umdr. i. d. Min. – umlaufenden und äußerst
leicht beweglich gelagerten Kreisels ist es gelungen, dieses Moment zu benutzen, um
einen Zeiger in die genaue Nordsüdrichtung einzustellen. Der so entstandene
Kreiselkompaß von Anschütz-Kämpfe ist von allen
störenden Einflüssen des Magnetkompasses frei und diesem an Genauigkeit überlegen,
leider ist er sehr teuer.
Der gewöhnliche Kinderkreisel (Fig. 2) besitzt eine
sehr bemerkenswerte Eigenschaft, er richtet sich nämlich bei eingetretener
Schrägstellung von selbst wieder auf, bis seine Achse senkrecht steht. Bei
flüchtiger Betrachtung wird man daher zu dem Gedanken verleitet, daß ein genügend
großer, in einen Wagen fest eingebauter Kreisel imstande sein könnte, sich selber
samt dem Wagen aufrecht zu halten und bei kleinen Störungen auch wieder
aufzurichten. Diese Ueberlegung läßt sich als unzutreffend nachweisen, wenn man nur
den Vorgang am Kinderkreisel etwas näher untersucht. Das untere Ende eines solchen
Kreisels ist abgerundet, so daß bei Schrägstellung nicht die Achse, sondern ein
seitlich liegender Punkt B den Erdboden berührt. Da die
Drehung jedoch um die Achse AA stattfindet, so erfolgt
bei B ein Gleiten und es tritt eine Reibungskraft auf,
welche den Kreisel um eine lotrechte, durch den Schwerpunkt gehende Achse CC zu drehen sucht. Diese Bewegung stellt eine
Präzession dar, die ein den Kreisel aufrichtendes Moment liefert.
Textabbildung Bd. 326, S. 402
Fig. 2.
Eine derartige künstliche Präzession des Kreisels braucht man auch in einem Wagen,
der durch den Einbau eines Kreisels zur Fahrt auf nur einer Schiene befähigt werden
soll, nur mit dem Unterschied, daß die Mittel zu ihrer Hervorbringung ganz andere
und vor allen Dingen nicht so einfache sind wie beim Kinderkreisel. Diese
Vorrichtung, meist als Servomotor bezeichnet, kann z.B. aus einem Pendel bestehen,
das senkrecht hängen bleibt, wenn der Wagen sich neigt und dadurch irgendwelche
Kraftquellen auslöst, die jetzt die Präzession des Kreisels bewirken. Der in D. p.
J. 1910, S. 527 beschriebene Wagen von Schilowski wirkt
in solcher Weise.
Zum Schluß mag noch darauf hingewiesen werden, daß nicht etwa immer die beiden
Winkelgeschwindigkeiten w1 und w2 die
ursprünglich gegebenen Größen zu sein brauchen, welche dann das Moment verursachen,
sondern daß neben der Winkelgeschwindigkeit w1 auch das Moment durch andere Einflüsse
hervorgebracht sein kann. In diesem Falle beginnt der Kreisel von selbst die
erforderliche Präzession mit der Winkelgeschwindigkeit w2 auszuführen. Hierdurch wird er dann
befähigt, ein dem äußeren Moment entgegenwirkendes Moment auszuüben.
Mit diesen Bemerkungen dürfte die Sachlage wenigstens so weit geklärt sein, daß man
imstande ist, die Leistungsfähigkeit des Kreisels für eine bestimmte ihm gestellte
Aufgabe zu beurteilen, vor allen Dingen aber zu erkennen, ob der Kreisel seiner
Natur nach irgend eine zur Erreichung eines gegebenen Zieles von ihm geforderte
Wirkung überhaupt haben kann.