Titel: | Die Chemische Industrie auf der Columbischen Weltausstellung im J. 1893. |
Autor: | Otto Mühlhäuser |
Fundstelle: | Band 290, Jahrgang 1893, S. 16 |
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Die Chemische Industrie auf der Columbischen
Weltausstellung im J. 1893.
Von Dr. Otto Mühlhäuser.
Die Chemische Industrie auf der Columbischen Weltausstellung im J.
1893.
Wer im Nord-Osten der „Weissen Stadt“ an einem hellen Tage den Dampfer
besteigt und auf dem blauen Michigan-See sich der Ausstellung nähert, gewahrt
am fernen Horizont – lange ehe das Auge die im hellen Sonnenglanze erstrahlenden
goldenen Kuppeln, die lichtübergossenen blendend weissen Paläste, Bauten und
Säulenhallen zum fesselnden Bilde vereinigt – die Wahrzeichen der „Fair“: den
Mammuthbau des Manufacturing-building und das
gigantische Rad Ferri's Wheel. Diese wie von
Cyklopenhand aufgeführten Eisenbauten symbolisiren aufs ausdrucksvollste den
Charakter des Schöpfungsstyles unserer Zeit, seine Grosse und seinen Wechsel, den
Fortschritt.
Auch die heutige chemische Industrie, deren Erzeugnisse jenes geräumigste aller
Gebäude birgt, trägt diesen Stempel des Zeitgeistes. Angesichts ihrer Schöpfungen
ersteht vor dem geistigen Auge des chemischen Technologen der Monumentalbau der
chemischen Industrie mit all seinen Meistern und Gehilfen, die ihn errichteten und
weiterführen. Man erkennt in den fundamentalen Theilen des Werkes die Hand des im
grossen Style schaffenden Meisters, in anderen auch schon wieder eine Entfernung
davon, einen zur Entartung führenden Manierismus, der – wenigstens in den Formen –
über das Erlaubte hinausgeht und der nur dann gerechtfertigt erscheinen würde, wenn
dadurch die Technik einer höheren Fabrikationsstufe angebahnt würde. Mehrtheilig
erhebt sich der stolze Bau, auf die mächtigen Fundamente der Landwirthschaft und des
Bergbaues gegründet. Er ist überspannt von dem Himmel der chemischen Wissenschaft
mit seinen Sonnen, deren Namen Jedermann und in allen Zeiten ehrfurchtsvoll nennt,
mit seinen Sternen erster, zweiter und dritter Grosse, mit Namen, welche nur die
Zeit bezieh. nur der Fachmann kennt, und auch mit seinen ephemeren Kometen, deren
Wesenheit der momentane Effect ist. Doch legen wir das Beobachtungsglas mit seinem
die verschiedenen Momente im Focus vereinigenden Objectiv bei Seite und sehen wir
zu, wie das alles so gekommen!
Die Producte der chemischen Industrie, wie sie uns auf der Weltausstellung
entgegentreten, dienen den höheren Tagesbedürfnissen der Culturmenschen unserer
Zeit. Bedürfnisse, deren Befriedigung selbst im vorigen Jahrhundert nur sehr wenigen
vergönnt war und die als luxuriös galten, wie die Hautpflege (Reinigung des Körpers
und des Unterzeuges mit Seife), Waschen der Kleidungsstücke mit Seife oder Soda,
Beschaffung von Heilmitteln, Bekleidung mit prächtig gefärbten oder bedruckten
Geweben, Beschaffung von Papier, von Licht u.s.w., dergleichen ist heute fast
Jedermann möglich geworden. Künstliches Licht, das der Sonne den Eintritt in die
Räume gewährende Glas, Reinigungs- und Heilmittel, Schreibmittel, kurz diese, die
Existenz des modernen Menschen bedingenden Gegenstände kann heute Jedermann sich
eignen, und eine mit Sinn für Farben begabte Menschheit erfreut sich an den bunten
Erzeugnissen der Mode, dieses mächtigen Bundesgenossen der Industrie.
Die Zeit, in der sich dieser Umschwung vollzog, liegt in der Spanne eines
Jahrhunderts. Die Ursachen, welche den Wechsel herbeiführten, können hier nicht
einzeln aufgezählt werden, es soll aber versucht werden, die Hauptmomente
hervorzuheben, welche die Entstehung und das Wachsthum der chemischen Industrie
veranlassen. Die chemische Industrie verdankt ihre Entstehung dem die Zeit der
Aufklärung charakterisirenden Drange nach Erkenntniss und muss in ihren Anfängen als
der unmittelbare Ausdruck dieser Zeit auf technischem Gebiete bezeichnet werden. Der Drang jener
Zeit nach Neuem gab den Anstoss zur erfinderischen Thätigkeit, schaffte die Mittel
zur Ausführung der Idee, suchte und fand den Verwendungskreis. So folgte der Idee,
die Baumwolle als Fasermaterial zu verwenden, in rascher Folge deren Verarbeitung
auf Bekleidungsstoffe und die Formation des Marktes. Die neue Industrie riss die
seit Jahrhunderten in primitivster Weise betriebene Seifenindustrie und mit dieser
die eben ins Leben getretene Sodaindustrie und Chlorkalkfabrikation unwiderstehlich
mit sich fort und eröffnete so auch der Bleicherei, der Färberei und dem Zeugdruck
das breite Feld der Ausdehnung. Seife, Soda und Bleichkalk wurden zum billigen,
Jedermann zugänglichen Artikel, deren reichliche Verwendung mehr und mehr die
Medicin bezieh. die daraus sich entwickelnde Hygiene empfiehlt.
Die sich von nun an steigernde Nachfrage nach diesen Erzeugnissen hatte die
Verarbeitung neuer Rohstoffe, die Eröffnung neuer Rohstoffquellen im Gefolge. Neue
Salinen wurden angelegt, tropische Pflanzenfette werden eingeführt, an Stelle des
Schwefels verwendet man Kiese u.s.w. Die neue Industrie diente jedoch nicht allein
den Bedürfnissen der Textil- und Seifenindustrie bezieh. auch der Hauswirthschaft,
sie hatte direct die Hebung der vordem nur in kleinerem Umfange betriebenen
Papierindustrie im Gefolge. Baumwollabfälle und Lumpen bildeten eine neue Quelle für
Cellulose; Soda und Bleichkalk gestatteten die Reinigung dieses vorzüglichen
Papiermaterials. Auch die Glasindustrie, welche bis dahin mit Holzasche gearbeitet
hatte, wurde im Laufe der Zeit eine Domäne der Sodaindustrie und gewann durch den
Zufluss des billigen Vorstoffes die Basis zur Grossindustrie. Seitdem hat die
Glasindustrie mächtige Ausdehnung in fast allen Culturstaaten gewonnen, Glasgefässe
und -Platten haben aufgehört Luxusartikel zu sein.
Dass die Sodaindustrie und diejenigen Industrien, welche sie bedingten und mit ihr im
engsten Zusammenhange standen, vorzüglich da zu Hause waren, wo die Verkehrswege die
An- und Abfuhr der Materialien in unbeschränkter Weise gestatteten, ist ohne
weiteres klar, und in der That sehen wir, dass England; das in den Kriegen zu Anfang
dieses Jahrhunderts sich von Neuem die Weltherrschaft gesichert hatte, der Hauptsitz
der neuen bezieh. auch neu belebten Industrien ist. In England siedelt sich die
Baumwollerarbeitungsindustrie vorzüglich an, bedingt das Entstehen einer mächtigen
Seifen- und Sodaindustrie, welche letztere wiederum die Papier- und Glasindustrie
mit sich emporhebt; von England aus geht auch der Handel mit diesen Fabrikaten nach
allen Theilen der Welt, wodurch jene Industrien nach und nach jenen ungeheuren
Umfang annahmen. Mit dem Exporte der Waaren geht aber die Emigration der Industrie
selbst Hand in Hand; Deutschland und Frankreich, welche bis dahin nur Rudimente
einer Sodaindustrie besassen, beginnen in den Productionskreis zu treten, und nach
sehr kurzer Zeit entwickelt sich an den von der Natur begünstigten Orten eine
chemische Industrie, deren Bestrebungen von den Vertretern der chemischen
Wissenschaft aufs lebhafteste unterstützt werden. Dass die Baumwollindustrie und die
damit verknüpften Industrien, namentlich auch die mehr und mehr in den Vordergrund
tretende Wollindustrie auf die Eisenindustrie bezieh. deren Entwickelung einen nicht
zu unterschätzenden Einfluss, wegen des Bedarfs neuer Maschinen, ausübte, ist
selbstredend, aber erst mit der allgemeineren Einführung moderner
Transportmittel, vornehmlich der Eisenbahnen, begann diese wichtigste aller
Industrien ihren allumfassenden Umfang und grossartigen Charakter anzunehmen, und
die Koksindustrie wurde die Basis zur Massenerzeugung dieses nützlichen Metalles.
Mit der Schaffung neuer Schienenwege wird auch der Verbrauch an Soda u.s.w. immer
allgemeiner; die bis dahin lediglich der Sodafabrikation dienende
Schwefelsäureindustrie kommt bald darauf auf eigene Füsse zu stehen, nachdem aus den
Bestrebungen Liebig's die Düngerindustrie – auch wieder
zuerst in England – hervorgewachsen war. Die neue Industrie macht sich aber bald von
der Sodaindustrie unabhängig, legt eigene Schwefelsäurebetriebe an und gibt – indem
sie die Schaffung vollkommener Dünger anstrebt – Anlass zur Mitverarbeitung kali-
und ammoniakhaltiger Materialien, vor allem der bei Stassfurt gewonnenen Abraumsalze
und des bei der Steinkohlendestillation fallenden Ammoniakwassers.
Inzwischen hatte sich auch die, Ende des letzten Jahrhunderts erstandene
Leuchtgasfabrikation mächtig entwickelt. Das dabei abfallende Gaswasser bildete den
Rohstoff der als besonderer Zweig sich ausbildenden Ammoniakindustrie. Der längere
Zeit noch werthlose Theer hatte wenigstens theilweise Verwerthung gefunden, nachdem
die Medicin in ihm die desinficirende Kraft gewisser Bestandtheile erkannt und in
den Kriegen, Mitte dieses Jahrhunderts, zur Milderung der Leiden anwenden konnte.
Volle Verwendung erhielt aber der Theer erst, nachdem es gelungen war, die in ihm
enthaltenen Bestandtheile in prächtige Farbstoffe umzuwandeln. Die neue Industrie
(die Anilinfarbenfabrikation) entstand in Frankreich und England, erhielt aber erst,
nachdem Deutschland und die Schweiz die Industrie an sich gerissen hatten, ihre
Entfaltung und hohe Bedeutung. Die Theerverarbeitung ging damit Hand in Hand, die
Scheidungsmethoden wurden mehr und mehr vollkommen und bilden sich da aus, wo der
Theer in grossen Massen abfällt, in Deutschland und England. Diese Länder bilden
auch eine Vorproductenindustrie aus, welche für Anilinfarbenfabriken, für
Heilmittel-, Sprengstoff- und Süsstoff-Fabriken arbeitet. Die neuen Theerfarbstoffe
verdrängen aus den Färbereien und Druckereien mehr und mehr die bis dahin
gebrauchten Holzfarbstoffe und geben Anlass zur vollständigen Umgestaltung der
Färberei und der Druckerei und zu deren Erhebung auf wissenschaftliche Basis. Auch
die Entstehung der Chromalkaliindustrie, dann die Nitritfabrikation gehört jener
Zeit an.
Die Salpetersäureindustrie, welche ihr Material, den Salpeter, aus Chile zugeführt
erhält, arbeitete ursprünglich nur für Dynamit- und Zwischenproductenfabrikation in
grösserem Maasstabe; aber erst in neuester Zeit – seit Schaffung der
Kriegssprengstoffindustrie – hat sie ihre feinere Ausarbeitung erfahren. Eine
ausserordentlich grosse Menge Chilesalpeter diente bis dahin zur
Schwarzpulverfabrikation und wurde zu diesem Zwecke in Kalisalpeter umgewandelt. Zur
Darstellung dieses Conversionssalpeters, dann auch namentlich zu Düngezwecken haben
die Stassfurter Abraumsalze das Material geliefert. Daraus ist dann, unter Anpassung
des Leblanc'schen Verfahrens, die Potaschefabrikation
erwachsen, welche mit ihren Fabrikaten einerseits eine Variation in der Verwendung
der Alkalien
gestattete und dadurch grössere Mannigfaltigkeit der damit hervorgebrachten Producte
erzielen liess, andererseits auch neue Industriezweige, wie z.B. die
Oxalsäureindustrie, im Gefolge hatte. In neuester Zeit hat man mit grossem Erfolge
versucht, das Stassfurter Chlorkalium auf elektrolytischem Wege direct in Chlor und
Kalihydrat zu spalten, und unter Anwendung desselben Verfahrens erzeugt man heute
Kaliumchlorat.
Von eingreifendster Bedeutung für alle auf Soda gestellten Industrien war seiner Zeit
die Einführung des Ammoniaksodaverfahrens. Diese neue Arbeitsweise, welche
ihrerseits wieder die Verfeinerung der Ammoniakverarbeitung verursachte, entwickelte
sich so mächtig, dass eine Zeitlang die Existenz der nach dem Leblanc-Verfahren
arbeitenden Werke bedroht schien. Heute, nachdem diese Fabriken im Kampfe ums
Dasein, durch Ueberarbeitung der Verfahren und Einführung zweckdienlicher Apparate
und Oefen, unter voller Berücksichtigung der Portschritte der Wärmetechnik, dann
durch Regeneration des Schwefels, den alten Process neubelebt und mit den
Anforderungen der Zeit in Einklang gebracht haben, ist diese Furcht – namentlich da
die Salzsäure immer mehr und mehr den Charakter des Hauptproductes annimmt –
gewichen. Das alte Verfahren besteht neben dem neuen; letzteres nimmt aber als die
reinste Soda- und Natronquelle nunmehr den ersten Rang ein und hat sich namentlich
in Deutschland, Frankreich, Belgien, Russland und Amerika eingebürgert.
Enorme Steigerung der Production erlitt die Industrie der Säuren und Alkalien durch
die Ausbeutung der Erdölquellen in Amerika und Russland. Lange Zeit wurden zur
chemischen Reinigung der Erdöldestillate nur aus England importirte Alkalien und
Säuren verwendet. Das hat nun grossentheils aufgehört, jene grossen Industrien gaben
vielmehr den Anlass zu einer amerikanischen und russischen Schwefelsäure- und
Sodafabrikation.
Die namentlich zur Vaselinölfabrikation, dann auch der Theerfarbenfabrikation
dienende rauchende Schwefelsäure wird sowohl in England, als auch in Deutschland und
Russland dargestellt.
Die chemische Industrie gleicht einem mächtigen, sich in das Meer des Consums
ergiessenden Strome. Verfolgen wir ihn zeitlich zurück bis zur Quelle, so passiren
wir alle Mündungen jener Seitenströme, die den Fluss anschwellen liessen, kommen ins
Zeitalter der Aufklärung, passiren den Engpass der Wende mittelalterlicher
Anschauung und begegnen dort den nicht minder wichtigen Quellflüssen, die sich in
die zurückliegende Zeit verlieren. Wir meinen damit jene zum Theil uralten
landwirthschaftlich-chemischen Gewerbe, wie Brauerei, Branntweinbrennerei,
Zuckerfabrikation, Seifensiederei, Gerberei, die Apothekerei; ferner jene auf
chemische Vorgänge basirten Industrien, die Keramik und Glasmachkunst. Diese Gewerbe
früherer Jahrhunderte haben im Hauptstrom – so wie er in unserem Jahrhundert dahin
fliesst – ihre Verjüngung und Kräftigung gefunden und verdanken der eigentlichen
chemischen Industrie – mit der wir es hier hauptsächlich zu thun haben werden – ihre
Renaissance.
Die Verwitterungsproducte der Urgesteine, die Natron- und Kalisalzlager, bilden die
Basis der sogen. chemischen Grossindustrie. Das Zersetzungsproduct der Cellulose
vorweltlicher Pflanzen, die Steinkohle, ist das Rohmaterial der der Eisenindustrie
dienenden Koksindustrie und der Leuchtgasfabrikation, also auch der auf diese
beiden Industrien gegründeten Theerfarbenindustrie. Das Zersetzungsproduct der Fette
einer früheren Thierwelt, das Erdöl und seine Verwandten, machen die
Mineralölindustrie möglich. Ausser diesen drei, das chemische Interesse vornehmlich
in Anspruch nehmenden Industriekreisen sollen an dieser Stelle die
Mineralfarbenfabrikation und die in das Gebiet der chemischen Kleinindustrie
fallende Präparatenfabrikation eine Erörterung finden; diejenigen Industrien
dagegen, welche auf die Verarbeitung der Pflanzen- und Thierproducte, von:
Cellulose, Zucker, Stärkemehl, der thierischen Haut, Knochen, Fette u.s.w.,
gegründet sind, werden hier nicht berücksichtigt werden.
Um den Bericht einem weiteren Leserkreise des Journals zugänglich zu machen, wird am
passenden Orte mit ein paar Strichen die Fabrikationsweise der wichtigeren
Industrien skizzirt werden. Dabei kann natürlich nur längst Bekanntes gegeben
werden, es wird indessen auch Nachricht gegeben von Dingen, die bis dahin nur einem
kleineren Kreise von Fachleuten bekannt waren.
––––––
An der Ausstellung chemischer Producte haben sich Amerika, Belgien, Deutschland,
England, Frankreich und Russland betheiligt, also alle eine chemische Industrie
besitzenden Staaten, mit Ausnahme der Schweiz, welche in chemisch-industrieller
Hinsicht mit Deutschland auf derselben hohen Stufe steht.
Der Versuch der Darstellung der Leistungsfähigkeit einer chemischen Weltindustrie ist
insofern missglückt, als sich am Wettbewerbe nur sehr wenige Firmen, darunter
allerdings sehr leistungsfähige, betheiligt haben, das Studium der Ausstellungen
ausserdem dadurch sehr erschwert wird, dass dieselben überall hin zerstreut sind.
Nur die deutsche Collectivausstellung gestattet vollen Einblick in die
Leistungsfähigkeit und Mannigfaltigkeit und in die hohe Bedeutung, welche die
chemische Industrie im Deutschen Reiche erlangt hat.
Ehe wir auf die einzelnen Ausstellungen eingehen, möge kurz der heutige Stand mit
Ausblick in die wahrscheinliche fernere Entwickelung der chemischen Industrie in den
verschiedenen Staaten eine wenigstens kurze Erörterung finden.
Die Vereinigten Staaten von Nordamerika besitzen eine
chemische Industrie par excellence noch nicht. Das Land ist erst im Begriffe, sich
eine solche zu schaffen, und hat es unter dem Schutzzollsysteme gerade diejenigen
Gewerbe mächtig entwickelt, welche die gesunde und starke Basis höherer
industrieller Thätigkeit – als welche sich die eigentliche chemische Industrie
darstellt – bilden. Wir meinen die auf den Bergbau, auf Ackerbau und Viehzucht sich
gründenden Industrien, die landwirthschaftlich-chemischen Gewerbe, die
Metallgewinnung, die Kohle- und Erdölverarbeitung, den Phosphoritaufschluss.
Die Metallgewinnung: die Eisen-, Kupfer-, Blei-, Zink-, Silber-, Golderzeugung mit
den sich anschliessenden Metallverarbeitungsindustrien, voran der Maschinen-,
Transportmittel- und Brückenbau, die Erdöl- und Phosphoritverarbeitung, haben heute
schon in gewisser Hinsicht in den Vereinigten Staaten die höchste Stufe, welche zur
Zeit möglich ist, erreicht. Dem Europäer fällt angesichts der Arbeitsstätten vor
allem die Bewältigung der Massen mit den grossen Hilfsmitteln auf, wie sie eben nur
diesem Lande eigen
sind. Das reiche Vorkommen der Erze, Mineralien, der hohe Lohn, die
verhältnissmässig kurze, zwischen zwei Handelskrisen liegende, günstige Conjunctur
fordern in Amerika weniger zur vollkommenen Ausbeutung einer Sache nach allen
Richtungen hin auf, als vielmehr zur schnellen Massenproduction mit allen Mitteln
moderner Technik.
Die landwirthschaftlich-chemischen Gewerbe, welche einerseits thierische Abfälle,
Häute, Fette, auf Dünger, Leim, Gelatine, Pepsin, Leder, Seife, Glycerin,
andererseits Pflanzenproducte, wie Baumwolle, Kohlehydrate, auf Papier, Cellulose,
Traubenzucker, Branntwein, Bier, Rohrzucker verarbeiten; haben in Amerika dieselbe
hohe Stufe innerer Durchbildung und Anpassung an den Ort erfahren, wie in Europa,
unterscheiden sich aber im Allgemeinen von den entsprechenden europäischen Anlagen
durch den grossen Styl der Rohstoffverarbeitung. Nur wer die hiesigen
Metallgewinnungs- und -Verarbeitungsstätten, die Erdölraffinerien, Brennereien,
Schlachthäuser, Gerbereien, Seifenfabriken, Zuckerraffinerien gesehen, kann sich ein
Bild von dem hohen Stande dieser Industrien und den Zielen machen, die sich der
vorurtheilsfreie, des Autoritätsglaubens bare amerikanische Grossindustrielle
gesteckt hat.
Auch die KeramikDie Keramik ist
hochbedeutend, die Rockwood-Ausstellung zeigt uns, wie man in Amerika
Geschmack mit den schwierigen Mitteln einer neuen Glasirtechnik zum denkbar
feinsten Ausdruck bringt. und die Glasfabrikation sind seit etwa
10 Jahren heimische Industrien geworden und haben den Import auf Kunstgegenstände
und gewisse Specialitäten beschränkt.
Wie aus dem Gesagten ersichtlich, ist in den Vereinigten Staaten die breiteste Basis
für eine eigentliche chemische Industrie geschaffen, welch letztere in ihren
Anfängen auch schon besteht. Die Textilindustrie, der Haushalt, die Bäckerei, die
Mineralwasserfabrikation, die Glas- und Seifenindustrie, die Erdölwerke consumiren
ausserordentlich grosse Mengen von Alkalien und anderen grossindustriell gewonnenen
Producten, welche heute noch grösstentheils von England bezogen werden. Es gibt zwar
einige Sodafabriken, welche Alkalicarbonat nach den Verfahren von Leblanc, Thomsen und Solvay schon seit einer Anzahl von Jahren fabriciren, es gibt auch Alaun-
und Chromatfabriken, aber bis heute sind diese Werke nicht im Stande gewesen, gegen
die englische Concurrenz anzukämpfen. Das Land mit seinen Wasser- und
Schienenstrassen, seinen unerschöpflichen Kohlen- und Salzlagern, ein idealer Boden
für den Ammoniaksodaprocess u.s.w., leidet an Mängeln, welche dem Gedeihen einer
Sodaindustrie zur Zeit noch im Wege stehen: hoher Lohn, schweifhafter Charakter des
im Uebrigen ausgezeichneten Arbeiterstandes, schlechte Ammoniakverhältnisse, Mangel
an einsichtsvollen, die Situation vollkommen beherrschenden Kapitalisten haben bis
dahin jene Industrie nicht aufkommen lassen, es ist aber kein Zweifel, dass sich
diese Verhältnisse in sehr kurzer Zeit ändern werden und das Land seinen Bedarf an
den Producten der chemischen Grossindustrie selbst fabriciren wird.
Auf voller Höhe und den Verhältnissen angepasst steht die Schwefelsäureindustrie,
welche den grossen Bedarf der Düngerfabriken und Erdölraffinerien u.s.w. deckt.
Dabei ist es interessant, zu erfahren, von welch ungeheurer Bedeutung zur
Ueberwindung der Pionirarbeit ein chemischtechnologisches Werk werden kann. Ich
meine das klassische Werk Georg Lunge's, welches hier
viele – bis dahin die Schwefelsäurefabrikation nicht kennende – Chemiker in den
Stand setzte, die in dem Buche niedergelegten Ideen und Erfahrungen jenes Meisters
in den Betrieb zu übersetzen.
Amerika hat auch verhältnissmässig alle Anfänge einer Präparatenindustrie, welche in
einigen Specialitäten recht Tüchtiges leistet, im Grossen und Ganzen werden aber die
von Apotheken, Photographen, wissenschaftlichen Anstalten u.s.w. gebrauchten Artikel
aus Deutschland bezogen und Gleiches gilt von denjenigen Producten, welche die auf
hoher Stufe stehende amerikanische Färberei und Druckerei benöthigt.
Die Leuchtgasfabrikation, seiner Zeit sehr bedeutend, erweitert sich seit Einführung
des elektrischen Lichtes nicht mehr und geht zurück. Auch die bescheidenen Anfänge
der Theer verarbeitenden Industrien, Theerproducten- und -Farbenindustrie, halten
einen Vergleich mit selbst auf niederer Stufe stehenden europäischen Werken kaum
aus, und haben auch in nächster Zeit noch keine Zukunft, da die hiesigen Schulen
keine Chemiker im deutschen Sinne des Worts, wohl aber sehr tüchtige Analytiker
ausbilden, welche bis dahin das Land eigentlich allein benöthigte.
Diese Einseitigkeit in der Erziehung des Chemikers wird indessen selbst heute schon
nicht mehr angestrebt und man beginnt die Ausbildung des Chemikers auf breiterer
Grundlage, nach deutschem Universitäts- und nach Polytechnicumsmuster, und ist gar
kein Zweifel, dass ersteres dem Lande tüchtige Lehrer, letzteres geeignete chemische
Technologen schaffen wird.
Die University of ChicagoDas etwa 250000 Doll.
kostende chemische Laboratorium dieser Universität zeichnet sich durch
äusserst praktische Einrichtung, Solidität, Einfachheit und äussere
Schönheit aus. Das von U. Nef eingerichtete
Institut ist durchaus originell gehalten, und kann man daran sehen, zu welch
schönen Resultaten man kommt, wenn man sich von früheren Anlagen nicht
beeinflussen lässt., die University of Pennsylvania, John
Hopkin's University, Yale-College, Harvard College sind hervorragende
wissenschaftliche Institute, deren Lehrer hohes Streben mit umfangreichem Wissen und
Können verbinden.
Die Hauptimporteure chemischer Grossindustrieproducte sind Brunner, Mond und Co. und die United Alkali
Company of England. Es ist nicht uninteressant, zu erfahren, zu welchen
Preisen z.B. die letztgenannte Firma gegenwärtig – Juli 1893 – ihre Waaren in New
York abgibt:
Artikel
ZollinCents
proPrund
ad valo-reminProc.
Aequivalentin Proc. desjetzigenNew
YorkerPreises
Kaustische Soda
1,0
1
–
35
Natriumbicarbonat
1,0
1
–
40
Krystallsoda
0,25
1
–
15
Natriumsulfat
1,25
2000
–
15
Wasserglas
0,5
1
–
30
Unterschwefligsaures Natron
–
–
25
20
Kupfersulfat
2,0
1
–
50
Ammonsulfat
0,5
1
–
20
Salmiak
0,75
1
–
15
Aluminiumsulfat
0,6
1
–
30
Chlorcalcium
–
–
25
20
Chlormagnesium
–
–
25
20
Chromsäure
6,0
1
–
50
Ultramarin
4,25
1
–
45
Salz
0,12
1
–
40
Diejenigen Städte, welche vornehmlich eine chemische Industrie besitzen, sind:
Boston, New York, Philadelphia, Baltimore, Cincinnati, St. Louis, New Orleans und
Charleston.
Belgien, das grosse Eisen- und Koksland mit seinen
riesigen Glasfabriken, dessen Kunst und Gewerbe seit Jahrhunderten blühen, dem
England die Textilindustrie entlehnte, dessen Farbengewerbe einem Rubens das Material lieferte, in dem wir heute die
Farbenphantasie dieses Meisters bewundern, ist seit Mitte der 60 er Jahre als
chemisches Industrieland in den Vordergrund getreten und producirt heute neben Theer
namentlich Soda und Ammoniak. Der Belgier Solvay ist
es, welcher das von Dyar und Hemming erfundene Ammoniaksodaverfahren lebensfähig gemacht und in fast
allen Industrieländern eingeführt hat.
Solvay nahm sich seit 1863 des erwähnten Verfahrens an,
und es gelang seinem Genie und seiner Thatkraft, dasselbe allmählich zu einem
technisch brauchbaren zu gestalten, so dass er schon 10 Jahre nachher mit dem
Leblanc-Verfahren, dessen Alleinherrschaft 50 Jahre lang unbestritten gewesen war,
ernstlich in Wettbewerb treten konnte. Solvay erreichte
den Erfolg nicht als Chemiker, sondern als IngenieurAuch heute noch beschäftigt Solvay in seinen Fabriken keine Chemiker,
sondern Ingenieure, während andererseits Brunner,
Mond und Co. mit grossem Erfolge nur Chemiker
verwenden., indem er die Apparate, namentlich die zur
Ammoniakwiedergewinnung nöthigen, verbesserte. Auf die kleine Anlage (1864) in
Couillet bei Charleroi folgten 10 Jahre später die grossen Werke von Dombasle und
Northwich. Seitdem sind fast in allen Ländern, namentlich auch in Deutschland,
Ammoniaksodafabriken nach belgischem Muster erstanden.
Auch in der rationellen Kohlenverarbeitung hat Solvay
Hervorragendes geleistet, und lassen die zur Koksbereitung dienenden, für Theer- und
Ammoniakgewinnung eingerichteten Semet-Solvay-Oefen bei billiger Anlage
ausgezeichnete Betriebsresultate erzielen.
Deutschland, Die vor dem 30 jährigen Kriege auf
deutschem Boden gepflegten und blühenden Gewerbe, vor allem auch diejenigen, welche
wir heute zu den chemischen rechnen: die Keramik, Glashüttenkunst, die Darstellung
der Maler- und Schmelzfarben und der Arzneimittel, die Brauerei, Färberei und
Gerberei, waren nach dem langen Kriege auf viele Jahre hinaus entweder ganz zu
Grunde gerichtet oder in ihrer Entwickelung gehemmt worden. Erst mit Anfang des 18.
Jahrhunderts beginnt das erschöpfte Land wieder aufzuathmen, die Gewerbe erstehen
wieder und werden durch neue Erfindungen belebt, erweitert bezieh. auch vermehrt.
1700 wird das Berliner Blau, 1709 das Porzellan durch Böttcher, 1740 die Sächsischblaufärberei durch Barth, 1747 der Rübenzucker von Margraff,
1774 das Chlor von Scheele entdeckt.
Das Ende des Jahrhunderts und der Anfang des 19. bringen neue schwere Kämpfe und
damit eine Stagnation in den Gewerben. Das Ausland hat die grossen Lehrer, die
besseren Methoden und macht daher auch die wichtigen Erfindungen. Paris ist die hohe
Schule für Chemie, dort studiren junge Deutsche und verpflanzen die neue
Wissenschaft nach Deutschland. Liebig, Wöhler, Bunsen
erstehen, beginnen zu wirken, gründen Schulen, bekommen Schüler und schaffen
dem Lande den Boden, auf welchem geackert und gesäet werden konnte. Es werden zwar
auch schon vorher chemische Fabriken angelegt, man macht auch Erfindungen, so
entdeckt Fuchs im J. 1818 das Wasserglas und die
Stereochromie, L. Gmelin in den 20 er Jahren das
Ultramarin, das dann von F. A. Köttig 1828 und von Leverkus 1834 im Grossen dargestellt wurde. Aber erst
in den 40 er Jahren, seit dem Wirken der grossen Lehrer, findet der
chemisch-industrielle Aufschwung in ausgedehnterem Maasse statt und wird der Anfang
von dem geschaffen, was man heute die chemische Industrie Deutschlands nennt. Man
baut Sodafabriken, Zuckerfabriken, versucht aus Holz und Stroh Cellulose für die
Papierfabrikation zu schaffen, Schönbein und Böttcher entdecken die Schiessbaumwolle; die
folgenschwere Entdeckung Liebig's, dass neutrales
Calciumphosphat, um von der Pflanze aufgenommen zu werden, erst mit Schwefelsäure
aufgeschlossen werden muss, schafft die Düngerindustrie und erweitert die
Schwefelsäurefabrikation.
In den 50 er Jahren wird das Begonnene gefördert und erweitert, Neues tritt hinzu,
wie die von Riebeck gegründete Mineralölindustrie zu
Halle, Weissenfels und Zeitz. Derselben Zeit gehören die Versuche Kuhnheim's an, die Soda nach dem Ammoniaksodaverfahren
zu fabriciren. Da während des Krimkrieges fühlbarer Mangel an Salpeter, den man bis
dahin von Ostindien bezogen hatte, auftritt, so versucht H.
Grüneberg mit Erfolg die Umwandlung des massenhaft vorkommenden
Chilesalpeters in Kalisalpeter mit Chlorkalium, welches er aus der Potasche der
Strandpflanzen und Schlempekohle bereitet hatte.
Die Entdeckung der Bedeutung der Stassfurter Abraumsalze durch A. Frank, ihre Verwendbarkeit zur Fabrikation von
Potasche, zur Chilesalpeterconversion, zu Düngezwecken bedeutet eine Epoche für die
chemische Industrie Deutschlands und erhält dieselbe zum ersten Male seit ihrer
Existenz eine originelle Seite. 1861 kam das erste Stassfurter Chlorkalium in den
Handel, verdrängt das Chlorkalium der Strandpflanzen und bringt auch die Versuche,
dasselbe aus Kalisilicaten und Meereslaugen zu gewinnen, zum Stocken. Vorster und Grüneberg
verwendeten es zunächst zur Darstellung von Kalisalpeter, wodurch der ostindische
Salpeter verdrängt wurde, später auch zur Darstellung von Potasche nach dem
Leblanc-Verfahren, aber erst im Laufe der Zeit wird die natürliche Potasche
verdrängt. Der Verbrauch an Carbonat steigt immer noch, Kaliseifen und -gläser
werden mehr und mehr geschätzt, für viele technische wichtige Säuren wird es
unentbehrlich, weil es mit denselben die erwünschten gut krystallisirenden Salze
erzeugt: Kaliumbichromat, Jodkalium, Kaliumchlorat, Ferrocyankalium,
Kaliumpermanganat. Hervorragende Bedeutung bekommen die Stassfurter Salze, vor allem
Chlorkalium, Kainit, Kaliumsulfat für Amerika, welches jene Salze für seine
Kalipflanzen: Tabak und Baumwolle in ausserordentlich grossen Mengen einführt. Die
Düngerindustrie, welche bis dahin ausschliesslich nur die Knochenkohlenrückstände
der Zuckerindustrie verarbeitet hatte, erhielt neue Nahrung durch die Entdeckung der
grossen Phosphoritlager an der Lahn im J. 1864. In die 60 er Jahre fallen auch die
Anfänge der deutschen Theerverarbeitungsindustrie: die Theerproducten- und
Theerfarbenindustrie, welche anfangs nach den in England und Frankreich erfundenen
Verfahren arbeitete.
Doch ertheilen wir jetzt das Wort einem Manne, der den nun auf industriellem Gebiete
beginnenden Siegeslauf als Bannerträger, Vorkämpfer und Bahnbrecher mitgemacht hat.
Bitten wir H. CaroUeber die Entwickelung der Theerfarbenindustrie
1893, S. 64 und S. 7., uns die Erfolge der kommenden Zeit zu
schildern:
„Kein goldtragendes Monopol stand an der Wiege der deutschen Industrie. Noch gab
es kein deutsches Reich und kein deutsches Patent. Es fehlte der
Unternehmungsgeist und das Kapital. Man misstraute der eigenen Kraft und ahmte
die fremden Erfindungen nach, England und Frankreich waren dem Absatze durch
Patente verschlossen, nur schüchtern und ungeschützt wagten wir uns auf den
Weltmarkt hinaus. Noch war der deutsche Gewerbefleiss nicht in fremden Ländern
geachtet, im Inland hemmte die staatliche Zerrissenheit seine Entfaltung; kein
einheitliches Recht, Geld, Maass und Gewicht, schwerfällig und unentwickelt der
Verkehr, abhängig von den Rohproducten, Maschinen und Erzeugnissen des
Auslandes, im ersten Aufschwung begriffen unsere Montan- und Textilindustrie.
Noch unterschätzten die deutschen Bundesregierungen die mächtige,
wirthschaftliche Triebkraft der chemischen Lehre. Noch waren die flammenden
Worte von Liebig ȟber den Zustand der Chemie in
Preussen« nicht beherzigt, noch harrten die grossen Lehrstätten von Bonn und
Berlin ihrer glänzenden Auferstehung. Es wirkte Hofmann in England als geistiger Mittelpunkt der dortigen Industrie,
es gründete Kekulé seine Schule in Gent, in fremder
Sprache und Schrift mussten wir die erste Kunde seiner neuen Lehre vernehmen,
und in den Laboratorien und Fabriken des Auslandes weilten spätere Gründer,
Leiter und Berather unserer grossen Werke.
„Da haben wir denn mit schwachen, geistigen und materiellen Waffen, auf engem
Gebiete, vorsichtig und zagend den Industriekampf aufgenommen. Die freie
Concurrenz war unser Sporn. Hart kämpfte man mit dem Landsmann um die eigene
Existenz, zur gewagten Selbstausbeutung neuer Erfindungen fehlte der Muth und
der Schutz. Man ging den sicheren und leichteren Weg. Zuerst ermittelte man die
Absatzquellen für die im Auslande bezogenen neuen Producte und machte sich auf
das genaueste mit den Bedürfnissen des Marktes vertraut. Dann griff man zur
Auswahl unter den bewährtesten fremden Patenten und begann die eigene
Fabrikation. Bald aber unterband das französische Monopol auf das Fuchsin und
seine Anwendung die freie Entwickelung der dortigen Farbenindustrie und, sich
wiegend in der geträumten Sicherheit des Patentes, blickte man sorglos auf den
strebsamen deutschen Nachbar. In England fiel das Fuchsinpatent und der Markt
wurde frei. Die Führer der englischen Farbentechnik traten von dem Schauplatze
ihrer Thätigkeit ab, ein ebenbürtiger Nachwuchs war nicht vorhanden, Hofmann kehrte nach Deutschland zurück.
„So ist unsere deutsche Industrie aus kümmerlichen Anfängen hervorgegangen, eine
ernste und sorgenvolle Schule hat sie durchgemacht. Aber die Arbeit hat ihre
Kräfte gestärkt und die Wissenschaft war ihre treue Stütze.
„Und als dann die grosse Zeit der deutschen Siege kam und nach ihnen die
Auferstehung des deutschen Reiches, da fand auch die Industrie auf den
Schlachtfeldern, was ihr noch fehlte: das Selbstvertrauen, das Bewusstsein
der eigenen Kraft. Ueberall regte sich frischer Unternehmungsgeist, das
Kapital wandte sich den chemischen Betrieben zu, grosse Werke und Gesellschaften
entstanden. Deutsche Erfindungen traten bei uns in das Leben, allen voran das
künstliche Alizarin. Bald macht sich auch der Einfluss des deutschen Patentes
geltend. Sein erstes Gebot heisst: Du sollst nicht nachahmen! Finde selbst!
„Der Bedarf der Farbstofftechnik hat in erheblichem Grade auf die
Productionssteigerung und Verbesserung der chemischen Grossindustrie eingewirkt
und das Hinzutreten neuer Fabrikationszweige veranlasst. Gleich anfangs rief die
Beschaffung des Nitrobenzols für die Erzeugung des Anilins eine vermehrte, sich
schnell steigernde Nachfrage nach Schwefelsäure und Salpetersäure wach, in
rascher Folge wurden zahlreiche neue Gebrauchszwecke für das Nitrirgemisch
ermittelt und bald musste man auf eine Verwerthung der Abfallsäure im
Schwefelsäurebetriebe bedacht sein. Das Fuchsin führte zur Massenfabrikation der
früher nur in geringen Mengen für den Kattundruck hergestellten Arsensäure und
damit zu einer weiteren Ausdehnung der Salpetersäurefabrikation, zugleich auch
zu der Regeneration der Salpetersäure aus den nitrosen Dämpfen und zu der
Wiedergewinnung des Arseniks aus den sich bedrohlich anhäufenden
Fuchsinrückständen. Mit dem Eintritt der Sulfosäuren in die Technik, namentlich
als Hilfsmittel der Alizarin-, Resorcin- und Naphtolfarbenindustrie, wurden an
die Schwefelsäureproduction neue Anforderungen gestellt, man verlangte nicht nur
mehr, sondern auch stärkere Säure, vom Monohydrat bis zum Anhydrid.
Verbesserungen entstanden im Bleikammerbetrieb, in den Concentrationsmethoden,
und das mittelalterliche Verfahren des Nordhäuser Vitriolöles musste der
eleganten Synthese von Clemens Winkler weichen.
Durch das nun zugänglich gewordene Anhydrid sind wiederum Fortschritte auf dem
Gebiete der Sulfosäuren, der Anthracenfarbstoffe und des künstlichen Indigo
ermöglicht und damit auch neue Impulse dem Schwefelsäurebetrieb und der
Gewinnung seines Ausgangsmaterials, der schwefligen Säure, aus den Röstgasen des
Schwefelkieses und der Zinkblende gegeben worden. Auch für das
Schwefelsäurechlorhydrin stellt sich eine Nachfrage ein. Eine mächtige
Triebfeder in der Productionserhöhung des kaustischen Natrons war die
Alkalischmelze der Anthrachinonsulfosäuren und die später folgende Anwendung
derselben Methode zur Erzeugung des Resorcins, der Naphtole und zahlreicher
anderer Schmelzproducte. Unterstützend wirkte der inzwischen begonnene
Concurrenzkampf der Solvay- und Leblanc-Sodaverfahren und die in der Perspective
sich zeigende Elektrolyse des Kochsalzes. Mit der Ammoniaksoda war die
Alkaliindustrie in eine neue Phase der Entwickelung und geographischen
Vertheilung eingetreten, die bis dahin bestandene Suprematie Englands fühlte
sich bedroht, zu ihrer Erhaltung musste auf wissenschaftlicher Bahn die
bisherige Productionsmethode vervollkommnet, eine bessere Verwerthung der
Nebenproducte, des Sodaschlammes und der Salzsäure, aufgesucht werden. Doch auch
die deutsche chemische Grossindustrie nahm frühzeitig Antheil an dieser Bewegung
und, obgleich hart bedrängt, stellte sie mehr und mehr der heimischen
Farbstofftechnik die früher vom Ausland bezogenen, durch Fracht und Zoll
vertheuerten Hilfsmaterialien zur Verfügung. Und mehr noch; unter
einer einsichtsvollen Zollpolitik trat an Stelle des Imports in immer steigendem
Maasse die Ausfuhr der Soda, des zu ⅘ aus Ammoniaksoda erzeugten kaustischen
Natrons, selbst der Schwefelsäure, der Salzsäure und des Chlorkalks. Aber die
Gegenbewegung der englischen Alkaliindustrie hat eine mächtige Vereinigung ihrer
Betriebe in das Leben gerufen und es wird unablässiger Fortschritte bedürfen, um
den bisherigen Erfolg zu sichern.
„Auch auf andere Erzeugnisse der anorganischen Chemie sehen wir den Einfluss der
Farbenindustrie sich erstrecken. Die Chlorirung des Toluols, des Naphtalins, des
Anthracens, die Darstellung des Phosphors, der Chloride des Phosphors und
anderer Chlorverbindungen gesellt sich zu den früheren Verwendungen des Chlors
und führt schliesslich zu seiner Darstellung im verflüssigten transportfähigen
Zustande. Die Druckschmelze des Alizarins, die Erzeugung des Anilinschwarz in
der Faser erfordern die Mitwirkung der Chlorate, die Oxydation des Anthracens
zum Anthrachinon ruft die Fabrikation des chromsauren Natrons in grossem Umfange
hervor, die Hofmann'schen Jodviolette und das
Jodgrün steigern zuerst den Absatz des Jods, das Eosin erhöht den Bedarf an
Stassfurter Brom, durch die Diazo- und Nitrosoverbindungen wird das
Natriumnitrit zu einem Handelsartikel, Bleisuperoxyd erweist sich als das
geeignete Oxydationsmittel der Leukoverbindungen, und Natrium findet seine
Verwendung in der Darstellung des Antipyrins. Verflüssigte Kohlensäure,
schweflige Säure, Ammoniak werden gebräuchliche Reagentien. Der Färberei der
Theerfarben werden neue Chrom-, Antimon-, Rhodan- und Fluorverbindungen als
Beizen zugeführt.
„Aus der anorganischen Technik, abhängig von deren Erzeugnissen und industriellen
Entwickelung, sind aber auch die Fabrikationszweige der organischen
Hilfsmaterialien hervorgewachsen, welche für die Herstellung und den
gewerblichen Gebrauch der synthetischen Theerfabrikate erforderlich sind, vor
allem die Producte der Alkoholindustrie und der trockenen Destillation des
Holzes: Alkohole, Halogenalkyle, Aether, Aldehyde, Aceton, Essigsäure, daran
sich anschliessend: das Glycerin der Fette, die aus der Kalischmelze des
Sägemehls hervorgehende Oxalsäure, ferner Weinsäure und Bernsteinsäure, die
Gallussäure der Galläpfel und das, Tannin. Die bewährte Beize der basischen
Anilinfarbstoffe, das aus dem Ricinusöl mittels Schwefelsäure erzeugte
Türkischrothöl.“
Die Aufrichtung des Deutschen Reichs, die einheitliche Regelung von Recht, Geld,
Maass und Gewicht, die Zollpolitik, das Patentgesetz, das Zusammenarbeiten von
Wissenschaft und Technik, die unversiegbar fliessende Quelle wissenschaftlich
gebildeter Chemiker, welche der Industrie die Wahl unter Vielen lässt, die Erziehung
des Arbeiterstandes in Volksschule und Heer, alle diese Umstände haben
zusammengewirkt und der deutschen chemischen Industrie die erste Stellung auf dem
Weltmarkte verschafft.
Ueber die Ausbildung des Chemikers, dieses wichtigsten Faktors, der bei chemischen
Unternehmungen in Frage kommt, hat man sich in Deutschland lange darüber gestritten,
ob es besser sei, erst auf dem Gymnasium Latein und Griechisch und dann auf der
Universität Chemie und verwandte Fächer zu studiren, oder aber, ob der spätere
Erfolg dadurch eher gewährleistet sei, dass der zukünftige Chemiker auf der
Realschule Französisch und Englisch, Mathematik und Zeichnen, später dann auf der
technischen Hochschule ausser dem gründlichen Studium von Chemie und anderen
naturwissenschaftlichen Fächern auch die Sprachen lerne, mittels derer man sich dem
Ingenieur gegenüber bezieh. in der Technik überhaupt ausdrückt. Seitdem Männer wie
G. Lunge, W. H Perkin, H. Caro sich zu Gunsten der
letzteren Auffassung geäussert haben, hängt die Wagschale, auf welche die
Gewichtsgründe für die humanistische Ausbildung des Chemikers niedergelegt worden
sind, hoch in der Luft. Heinrich Caro, jener eminente
Chemiker und Techniker, äussert sich über seinen Standpunkt wie folgt:
„Man unterscheidet gegenwärtig zwischen dem Laboratoriums- und Betriebschemiker.
Der eine ersinnt die Verfahren und stellt ihre wissenschaftlichen Bedingungen
fest. Der andere führt sie in die Praxis ein, überwacht und verbessert ihren
täglichen Betrieb. Beide Berufstätigkeiten lassen sich selten heute noch
vereinigen. Für beide ist eine das gesammte chemische Gebiet umfassende und bis
zur selbständigen Lösung chemischer Probleme gesteigerte, theoretische
Vorbildung die Grundbedingung des späteren Erfolges, insbesondere für den
Betriebschemiker, der durch seine Berufspflichten leichter die Fühlung mit der
Wissenschaft verliert. Diese Vorbildung kann man sich auf der Universität wie
auf der technischen Hochschule erwerben. Es hängt von dem Lehrer und seinem
persönlichen Beispiele ab, ob der Chemiker zum Forscher erzogen wird. Auch die
für jeden erforderliche allgemeine Kenntniss der angewandten Chemie und ihrer
Arbeitsund Untersuchungsmethoden lässt sich an beiden Lehrstätten erlangen. Aber
der Betriebschemiker – will er nicht, bei der immer mehr sich vollziehenden
Arbeitstheilung, ein einseitiger Autodidakt in seiner späteren Praxis verbleiben
– bedarf ausserdem einer Vorbildung in den mechanischen Fächern, wie sie bis
jetzt nur die technische Hochschule bietet. Allerdings haben erfahrungsgemäss
auch besonders praktisch veranlagte Jünger der wissenschaftlichen Hochschulen
sich zu hervorragenden Betriebsleitern in der Farbstofftechnik herangebildet.
Doch sind dies Ausnahmen, mit welchen sich schwer im Voraus rechnen lässt. Daher
gibt man in der Regel dem wissenschaftlich und technisch vorgeschulten Chemiker
den Vorzug bei der Anstellung im Betriebe.“
Nicht unerheblichen Antheil an der Schaffung fabrikatorisch gesunder Zustände hat die
chemische Berufsgenossenschaft: S. S. 14: Ueber die
Entwickelung der Theerfarbenindustrie 1893.
Der Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie DeutschlandsVgl. den Führer durch
die Ausstellung der chemischen Industrie Deutschlands, S.
8., dessen Sitz in Berlin ist, gibt jährlich Gelegenheit zum
mündlichen Meinungsaustausche an wechselnden Orten und behandelt alle die Industrie
interessirenden Fragen in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift: Die chemische Industrie. Er sorgt für die Vertretung
der deutschen chemischen Industrie nach aussen, für die Geltendmachung ihrer
Bedürfnisse der Reichsregierung gegenüber, sowie für den erspriesslichen Verkehr der
Fabriken unter sich. Der Verein besteht aus 8 Sectionen, deren Sitz in denjenigen
Industriebezirken Deutschlands ist, wo sich in Folge günstiger
Verkehrsverhältnisse
oder in Folge anderer Momente, wie z.B. Vorkommen von Rohstoffen,
Industriecentren gebildet haben. Folgende Tabelle zeigt, wo die Industrie sich
hauptsächlich angesiedelt hat, sie gibt auch Einblicke in die Bedeutung der Betriebe
und die Zahl der darin beschäftigten Arbeiter.
Section:
Zahl derBetriebe:
Zahl derArbeiter:
I.
Berlin
884
13596
II.
Breslau
497
6267
III.
Hamburg
737
15337
IV.
Köln
810
16585
V.
Leipzig
1090
16478
VI.
Mannheim
418
15683
VII.
Frankfurt a. M.
369
10590
VIII.
Nürnberg
470
5749
1891 erhielten in Deutschland 100285, in 5273 chemischen Betrieben beschäftigte und
versicherte Arbeiter an Löhnen und Gehältern 83855957 M. für 29979280
Arbeitstage.
Frankreich. Die Gewerbe der früheren Jahrhunderte haben
sich in dem frühzeitig geeinten Frankreich stetig und verhältnissmässig ungestört
entwickeln können und haben auch vielfach durch von Franzosen ausgehende
Erfindungen, theils auch durch Herübernahme fremdländischer Gewerbe Vervollkommnung,
Erweiterung und Vervielfältigung erfahren.
Schon gegen Ende des Mittelalters legte man in Frankreich grössere Glasfabriken an
und später erfindet man die Kunst: Glas zu giessen, stellt Tafelglas her. Im 16.
Jahrhundert nimmt man die Majolika von Italien herüber, welche durch Pallissy ihre hohe Blüthe erreicht; etwa zur selben
Zeit wird die bis dahin nur in Spanien ausgeübte Kunst der Bereitung des
„weissgaren Leders“ in Frankreich eingeführt. Auch die Arzneimittel und
Malerfarbenbereitung stand in jener Blüthezeit der französischen Kunst und
Wissenschaft in hohem Ansehen.
Seit 1695 machte man Frittenporzellan in St. Cloud, später seit 1740 auch in Sevres.
Nach der Entdeckung der Kaolinlager zu St. Yrieix im J. 1774 fabricirte man auch
Hartporzellan am letztgenannten Orte. Mitte des 18. Jahrhunderts wird auch die
Türkischrothfärberei eingeführt und der Zeugdruck ausgebildet.
Die französische Revolution reizte und förderte eher den Erfindungsgeist, legte aber
die Gewerbe lahm und zog das Interesse von der Verwerthung der Erfindungen ab. So
ist die 1793 von Clément und Desormes gemachte Erfindung: die schweflige Säure mit Luftsauerstoff unter
Verwendung von Salpeter als Sauerstoffüberträger zu oxydiren, für Frankreich
zunächst wenig fruchtbringend geworden. Man fabricirt zwar Schwefelsäure, aber nur
in kleinem Maasstabe, weil die Gewerbe darniederliegen. Man fabricirt auch andere
Chemikalien, zersetzt Kochsalz mit Schwefelsäure, bereitet Glaubersalz, fängt die
Salzsäure auf und spaltet letztere nach der Scheele'schen Methode. Das entstehende Chlor leitet man auf Anregung Berthollet's in Potaschenlauge ein und bereitet die zum
Bleichen und Aetzen verwendete Flüssigkeit, das „Eau de Javelle“.
Als zur selben Zeit die natürliche Soda und die grossen Mengen aus Landpflanzen
gewonnene Potasche für den, namentlich durch die Baumwollindustrie mächtig
gesteigerten Verbrauch an Seife nicht mehr ausreichten, löste Leblanc 1791 das Problem, Soda aus Kochsalz bezieh.
Natriumsulfat darzustellen. Aber auch er erhält nicht die nöthige Unterstützung, er
stirbt 1806 im Armenhause und nach wie vor importirt man von Spanien die
Barilla-Soda und verwendet diese zur Herstellung der weltberühmten Marseiller Seife.
Nicht die Industrie und der Handel, sondern die Politik nimmt in jener Europa
erschütternden Zeit das Interesse in Anspruch. So kommt es, dass die in Frankreich
ihren Anfang nehmende moderne chemische Industrie erst im Auslande lebensfähig und
leistungsfähig wird. Die Schwefelsäureapparatur erhält zwar durch Gay-Lussac 1827 noch einen ihrer wesentlichsten Theile
zugefügt, aber England hat bereits die neue Industrie an sich gezogen und seinem
grossen Industrieorganismus eingegliedert und bildet in der Folge das aus, was wir
die chemische Grossindustrie nennen. Nach englischem Muster richtet man dann in
anderen Ländern, vor allem auch in Frankreich, Sodafabriken ein.
Dagegen entwickelt sich die von Deutschland nach Frankreich verpflanzte
Rübenzuckerindustrie so rasch, dass in diesem Lande Ende der 20 er Jahre schon über
50 Fabriken bestehen. Auch die Erfindung Guimet's hat
die Schaffung einer nationalen Ultramarinindustrie im Gefolge, welche Fabrikation
ihrerseits wieder anregend auf die in Frankreich seit Jahrhunderten gepflegte
Farbenbereitung wirkt. Die folgende Zeit festigt und erweitert das Bestehende und
bringt Neues hinzu. Die Producte der landwirthschaftlich chemischen Gewerbe, vor
allem Zucker, Leder, Seife, ätherische Oele, die Fabrikate der Färberei und
Druckerei, die Farbholzextracte erobern sich erste Stellung auf dem Weltmarkte. Die
Ende der 50 er Jahre in französischen Färbereien erblühende Anilinfarbenindustrie
scheint für Frankreich eine Epoche zu bedeuten. Aber schon nach kurzer Zeit
unterbindet ein Monopol die freie Entwickelung der jungen Industrie, das Ausland
reisst dieselbe an sich und ehe das Land den Schaden repariren kann, bricht der
Krieg herein, nimmt der französischen Industrie eines seiner besten Absatzgebiete,
dazu auf Jahre das Vertrauen in die eigene Kraft und in die Zukunft.
Erst seit Mitte der 70 er Jahre nimmt Frankreich wieder regeren Antheil an der
Schaffung einer nationalen chemischen Industrie. Man errichtete Theerfarbenfabriken
und Präparatenfabriken, man gründet die grosse Ammoniaksodafabrik in Dombasle. Heute
besitzt Frankreich eine anderen Ländern ebenbürtige Grossindustrie, auch eine den
inländischen Bedarf grossentheils deckende chemische Kleinindustrie, es nimmt
Antheil an der Lösung der grossen chemisch – technischen Probleme der Zeit (Pechiney) und hat die moderne Industrie der
Kriegssprengstoffe lebensfähig gemacht (Berthelot) und
geschaffen (Vieille, Turpin).
Grossbritannien. Die chemische Grossindustrie ist eine
englische Industrie, die im Laufe der Zeit, namentlich in den letzten drei
Jahrzehnten auch nach anderen Ländern verpflanzt worden ist und dort eigenartige
Ausarbeitung bezieh. Umgestaltung erfahren hat.
Seiner Zeit als zweifelhaftes Samenkorn von Frankreich nach England gebracht, ist sie
in diesem Lande zum herrlichen Früchte tragenden Baume ausgewachsen. Der Baum ist im
Laufe der Zeit vielfach veredelt worden, auch andere Länder haben ihm frische Reiser
aufgepfropft und neue prächtige Früchte sind davon erhalten worden. Ein Trieb hat
sich besonders rasch und kräftig entwickelt, ist zum riesigen, den einstigen Wipfel
überschattenden, ihm die Lebensbedingungen raubenden Aste geworden, ein anderer Spross scheint
schon in der Knospe die zukünftige Kraft und Macht der Entfaltung errathen zu
lassen. Wir meinen den in der Vollkraft sich befindenden Ammoniaksodaprocess und das
erst sich entwickelnde elektrolytische Kochsalzspaltverfahren.
Das Ammoniaksodaverfahren ist es, welches dem Leblanc-Processe in England als
unversöhnlicher Gegner den Untergang bereitet, und man muss nach neuesten
Nachrichten glauben, dass das Leben der alten Industrie eigentlich nur noch von der
Gnade des Gegners abhängt, bezieh. dass man bei jenem Processe seit neuerer Zeit
Salzsäure als Hauptproduct gewinnt, dass Natriumsulfat aber als lästiges
Nebenproduct abfällt, das man, so gut es geht, auf Soda, Antichlor und Schwefel
verarbeitet. Aber auch der heute in vollem Lichte erstrahlende Ammoniaksodaprocess
scheint in nicht allzuferner Zukunft vor dem wie eine neue Sonne am fernen Horizonte
auftauchenden Kochsalzzersetzungsprocesse auf elektrolytischem Wege erbleichen zu
sollen. Die Katastrophen sind aufgethürmt und wird bei einer Auslösung England als
„nur Soda producirendes Land“ vor allem ein grosser „Trust“ am
meisten davon betroffen werden, wird am meisten Anstrengungen machen müssen, das
gewonnene Terrain auf dem Weltmarkte zu behaupten. Heute liefert England noch einen
grossen Theil seiner von der chemischen Grossindustrie erzeugten Producte nach
überseeischen Ländern, vor allem Amerika, Russland u.s.w. Für Deutschland kommt
England nur noch als Quelle für Ammoniak und Theerproducte in Betracht, Stoffe, die
bei der sehr entwickelten Kohlen Verarbeitungsindustrie abfallen. Mit jenen
Producten kann es selbst darum nichts anfangen, weil ihm die Bedingungen fehlen,
welche zur Veredlung der Theerproducte nöthig sind, vor allem der billige, dabei
wissenschaftlich hochgebildete, der Fabrikdisciplin sich willig unterordnende, jeder
Zeit auswechselbare Chemiker, der mit einem Fusse in der Technik, mit dem anderen in
der Wissenschaft steht. England besitzt wohl grosse Theerverarbeitungsanlagen, aber
keine dem Lande auch nur annähernd angemessene 1und Ganzen bereitet man in den
englischen Theerfarbenfabriken nur die alten, durch Patente nicht geschützten
Farbstoffe. Nur sehr wenige Neuerungen gehen auf jenem Gebiete von englischen
Chemikern aus. Auch die Fabrikation chemischer Präparate ist zurückgeblieben, hat
mit der deutschen Schwesterindustrie nicht Schritt gehalten, dagegen leistet man in
der Bereitung der Malerfarben von jeher Hervorragendes.
Russland hat eine bedeutende Leder-, Spiritus- und
Zuckerindustrie, es besitzt Seifen-, Soda- und Schwefelsäurefabriken,
Düngerfabriken, Farbholzextract- und Ultramarinfabriken, auch einige Werkstätten, in
denen man chemische und pharmaceutische Präparate bereitet, es hat eine sehr
ausgedehnte und auf hoher Stufe stehende Färberei und Druckerei, kurz das Land
emancipirt sich, sucht sich unabhängig zu machen und steht zu erwarten, dass ihm
das, wenn auch langsam, gelingen wird und das um so eher, da Russland alljährlich in
seinen chemischen Instituten eine grosse Anzahl tüchtiger Chemiker, die
ausserordentlich billige Arbeit leisten, heranbildet.
Hochbedeutend ist die russische Naphtaindustrie, welche Erdöl auf Leucht- und
Schmieröle verarbeitet. Ihr Hauptsitz ist Baku, die Raffinerien sind indessen über
das ganze Reich verbreitet und liegen dann entweder an den grossen Strömen oder
an Seehäfen. Die zum Raffiniren der Mineralöle nöthige Schwefelsäure wird in
Russland selbst bereitet, ebenso die zur Vaselindarstellung gebrauchte rauchende
Schwefelsäure, dagegen führt man den grössten Theil des kaustischen Kalis immer noch
von England aus ein. In neuerer Zeit regenerirt man in Baku auch die Abfallsäuren
und selbst das zum Laugen der sauren Oele gebrauchte Alkali.
Die Hauptindustriesitze sind Baku, Odessa, Moskau, Warschau, St. Petersburg,
Riga.
(Fortsetzung folgt.)