Titel: | Zur Theorie des Stahles; von W. Mattieu Williams. |
Autor: | r. |
Fundstelle: | Band 228, Jahrgang 1878, S. 543 |
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Zur Theorie des Stahles; von W. Mattieu Williams.
Williams, zur Theorie des Stahles.
Ein Material, welches den höchsten erreichbaren Härtegrad anzunehmen im Stande ist,
dem mit Leichtigkeit jede beliebige Form und Gröſse beigebracht werden kann, und
welches sich selbst ritzt, ist im Dienste der Menschheit von unschätzbarer
Wichtigkeit. Ein solches Material besitzen wir im Stahl. Die auffälligste
Eigenschaft dieses Fabrikates ist indessen diejenige, daſs es sich „tempern“
läſst, d.h. daſs man den Stahl je nach dem Temperaturgrad, dem es ausgesetzt wird,
und je nach der Länge der Zeit, die man ihm zur Abkühlung gewährt, jeden beliebigen
Grad von Härte oder Weichheit geben kann.
Wir wissen, daſs Stahl der Hauptsache nach eine Verbindung von Eisen mit ungefähr 1
Proc. Kohlenstoff ist, und ersehen sowohl aus seinen äuſseren als aus seinen inneren
Eigenschaften, daſs diese Verbindung weder eine rein chemische, noch eine rein
mechanische sein kann. Ersterer Fall ist schon dadurch ausgeschlossen, daſs wir im
Stahl alle möglichen Kohlenstoffverhältnisse zwischen ¼ und 3 Proc. finden; der
Annahme einer rein mechanischen Mischung steht die Fähigkeit des Härtens entgegen,
welche weder dem Eisen noch dem Kohlenstoff an und für sich eigen ist. Hieraus folgt
ganz von selbst, daſs wir versucht werden, den Stahl als eine Verbindung von
metallischem Eisen mit Kohleneisen anzusehen, welche in jedem beliebigen Verhältniſs
vor sich gehen kann. Dieses Kohleneisen ist eine chemische Verbindung von
feststehender Zusammensetzung, welche durch die Formel Fe4C ausgedrückt wird. Daſs diese Verbindung existirt und in unseren besten
Spiegeleisensorten sogar allein auftritt, ist durch unsere berühmtesten Metallurgen
sattsam erwiesen. Nach der Berechnung enthält dieselbe 5,36 Proc. Kohlenstoff. Dem
Verfasser wurde häufig Gelegenheit geboten, die verschiedensten Spiegeleisensorten
zu analysiren, und er fand dabei stets, daſs die im Spiegeleisen vorkommenden,
dünnen, hochkantigen Lamellen, welche den höchsten Grad von Krystallisation zeigen,
fast genau nach der Formel Fe4C zusammengesetzt
sind. Unter Anwendung der Annahme, daſs Stahl lediglich ein Gemisch dieser
Verbindung mit Eisen ist, wird die Erklärung der Hartbarkeit des ersteren
auſserordentlich erleichtert. Wir wissen, daſs Eisen um so leichter schmelzbar ist,
je mehr Kohlenstoff es enthält. An der Grenze der Schwerschmelzbarkeit steht in
dieser Beziehung das reinste Stabeisen und ihm gegenüber das hochgekohlte
Spiegeleisen. Noch leichtflüssiger als letzteres ist nach dieser Theorie die
Verbindung Fe4C. Es steht nun aber der Annahme
nichts entgegen, daſs das schwer schmelzbare Schmiedeisen, bis zu einem gewissen
Grade, in einem Bade von geschmolzenem Fe4C löslich
ist. Die neuere Darstellung von homogenem Stahl führt uns direct zu dieser
Anschauung, insofern derselbe dadurch erzeugt wird, daſs man Abfälle von
Schmiedeisen in einem Bade von geschmolzenem Spiegeleisen löst.
Die bis heute noch nicht ganz aufgeklärte Theorie der Cementstahlfabrikation, deren
hier besondere Erwähnung geschieht, weil sie von der Herstellung des Stahles im
Allgemeinen wesentlich abweicht, findet ihr Analogon in vielen Fabrikationszweigen,
wo die Oberfläche eines schwerer schmelzbaren Metalles mit flüssigem, leichter
schmelzbarem bis zu einer gewissen Tiefe durchdrungen wird. So geschieht es bei der
Galvanisirung des Eisens, bei der Verzinnung des Kupfers, bei der Amalgamation der
verschiedenen Metalle mit Quecksilber u.s.w. Nehmen wir nun an, daſs beim Einpacken
von Schmiedeisen in kohlehaltigen Substanzen und darauf folgendem Glühen sich
zunächst an der Oberfläche Fe4C in mindestens
teigigem Zustand bildet, welches in dem Maſse, wie es entsteht, von dem festen
rothglühenden Eisen absorbirt wird, so ist damit die Darstellung des Cementstahles
erklärt.
Wir wissen, daſs in jedem Körper ein geringerer oder groſserer Grad von
Molecularanziehung vorhanden ist, welcher sich bei festen Körpern bis zur
Sprödigkeit steigern kann. Wenn nun auch Schmiedeisen in geschmolzenem Fe4C löslich ist, so wird doch bei abnehmender
Temperatur ein Zeitpunkt eintreten, bei welchem ersteres erstarrt, während letzteres
sich noch in halb flüssigem oder plastischem Zustand befindet. Da nun Flüssigkeiten
sich während der Abkühlung stärker zusammenziehen als feste Substanzen, so muſs eine
so heterogene Masse, wie Schmiedeisen und Fe4C,
unter gleichen Umständen eine heftige Molecularanziehung erzeugen, durch den
Widerstand, welchen das erstarrte Eisen der gröſseren Zusammenziehung des
halbflüssigen Kohleneisens entgegensetzt. Und hierin ist die Erklärung für das
Härten des Stahles gegeben.
Flüssige Substanzen ziehen sich bei einer Temperatur Verminderung nicht nur stärker
zusammen als feste, sondern es findet auch ein gewisses Verhältniſs zwischen der
Ausdehnung und Zusammenziehung der festen Substanzen selbst statt. Im Allgemeinen
haben leichtflüssige Körper einen gröſseren Ausdehnungscoefficienten als
schwerschmelzbare. So dehnt sich Stahl stärker aus als Schmiedeisen und Guſseisen mehr als Stahl, unter
den Roheisensorten aber Spiegeleisen am stärksten. Es ist nun leicht begreiflich,
daſs bei langsamer Abkühlung einer Mischung von Schmiedeisen mit Fe4C das erstere während der Zusammenziehung durch
letzteres allmälig in solche Formen und Dimensionen zusammengequetscht oder
ausgezogen wird, welche seinen Molecularverhältnissen besser entsprechen, als wenn
die Abkühlung plötzlich erfolgt, und so erhalten wir die Erklärung von der
Eigenschaft des Stahles, bei langsamer Abkühlung weich zu werden. Nach obiger
Auseinandersetzung muſs gehärteter Stahl ein geringeres specifisches Gewicht haben
als ungehärteter, was wir auch überall bestätigt finden. Gmelin gibt das specifische Gewicht von gehärtetem Guſsstahl zu 7,6578 an
und von nicht gehärtetem zu 7,9288; ebenso ist es bekannt, daſs weicher Stahldraht
noch durch ein Loch gesteckt werden kann, welches er nach dem Härten nicht mehr zu
passiren im Stande ist.
Wenn die Theorie der Molecularanziehung des Stahles richtig ist, so müssen ähnliche
Anziehungskräfte auch bei anderen Metallmischungen wirksam sein, und in der That ist
dies so allgemein der Fall, daſs man es als ein physikalisches Gesetz aufstellen
darf: Wenn zwei Metalle von verschiedener Schmelzbarkeit mit einander vermischt
werden, so ist der Härtegrad der Legirung gröſser, als die mittlere Härte beider
Mischungstheile, gewöhnlich sogar gröſser als derjenige des härteren von beiden.
Dies finden wir in der Praxis beim Spiegelmetall, Kanonenmetall, Glockenmetall, bei
der Bronze und anderen Verbindungen von Kupfer mit Zinn und Zink u.s.w.
Noch bessere Analogien bieten die Verbindung des Eisens mit anderen Metalloiden.
Schwefel und Eisen bilden verschiedene chemische Verbindungen, unter denen uns
namentlich das Einfachschwefel eisen durch seine Eigenschaft, das Eisen rothbrüchig
zu machen, bekannt ist. Phosphor verbindet sich mit dem Eisen in allen Verhältnissen
und liefert ein sehr hartes, leichtschmelziges Product, so daſs man lange Zeit
geglaubt hat, durch Verschmelzung beider Körper Stahl erzeugen zu können; doch ist
dasselbe so brüchig, daſs es den Stöſsen und Erschütterungen, welchen Werkzeuge
ausgesetzt zu sein pflegen, nicht widersteht. Die Eigenschaften, welche Silicium dem
Eisen verleiht, sind den durch Kohlenstoff bewirkten so ähnlich, daſs man sogar
zeitweise Siliciumstahl erzeugt und zu Werkzeugen verarbeitet hat; derselbe enthält
ebenso viel Silicium als Kohlenstoff.
Sehr groſse Aehnlichkeit mit den Eigenschaften des Stahles und der übrigen eben
beschriebenen Verbindungen zeigt das Glas; letzteres besteht bekanntlich aus
verschiedenen Alkalien, Erden, Metallen und Kieselsäure, je nach dem Zwecke, welchem
es dient, und die verschiedenen Grade der Schmelzbarkeit seiner Bestandtheile
bedingen die Eigenschaft, daſs es je nach der Behandlung hart oder weich erscheint.
Jedenfalls trägt die Eigenschaft sowohl des Stahles als des Glases, beim Uebergang
aus dem festen in den flüssigen Zustand ein Stadium der Plasticität zu durchlaufen,
dazu bei, diese Eigenthümlichkeit zu erzeugen. Wenn der leichter schmelzbare Stoff
plötzlich aus dem flüssigen in den festen Zustand übergeht, wie dies mit den
Schwefel- und Phosphorverbindungen des Eisens der Fall ist, so kann die
Molecularanziehung oder Brüchigkeit durch allmälige Abkühlung nicht gemäſsigt
werden. (Nach der Metallurgical Review, 1877 Bd. 1 S.
197.)
– r.