Titel: | Modell zur Veranschaulichung der Reaktionswirkungen an statisch bestimmten und unbestimmten Trägern. |
Autor: | W. Tochtermann |
Fundstelle: | Band 336, Jahrgang 1921, S. 59 |
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Modell zur Veranschaulichung der
Reaktionswirkungen an statisch bestimmten und unbestimmten Trägern.
Von Dipl.-Ing. W. Tochtermann, Professor
in Eßlingen a. N.
TOCHTERMANN, Modell zur Veranschaulichung der Reaktionswirkungen
etc.
Ueber den Wert von Anschauungsmodellen, wie überhaupt über die Handhabung von
Anschauungsunterricht ganz allgemein an technischen Fachschulen jeglicher Art, ist
man sich in den beteiligten Fachkreisen längst klar.S. z.B. Aufsatz von Prof. Dr. E. Meyer, Z. d. V. d. J. 1909. S. 1301;
Prof. Dr. Enßlin, Z. f. gew.
Unterricht 1910, Nr. 15; Prof. Kammerer, Technik und Wirtschaft, 6.
Jahrg., Jan. 1913. Die Firma Max Kohl, A.-G. in
Chemnitz z.B. stellt seit vielen Jahren eine Reihe von Modellen her, die nach
Angaben der Prof. Dr. Meyer, Dr. Skutsch, Dr. Prandtl, Vater, Dr. Enßlin, Winkel
u.a. gebaut wurden und die sämtlich für Unterrichtszwecke, zur Förderung und
Festigung des Verständnisses des Lernenden dienen.
Auch die Württ Höh. Maschinenbauschule Eßlingen benutzt seit Jahren mit bestem Erfolg
solche Modelle, worüber der Verfasser in der Zeitschr. f. gewerbl. Unterricht
berichtet hat.Z. f. gewerbl. Unterricht 1913, Nr. 27 und 28 u. 1916, Nr. 38.
Bei der Berechnung von Trägern, gleichviel ob gerade oder gekrümmt, ob statisch
bestimmt oder unbestimmt, ebenso bei Rahmen und Gitterwerken muß, ehe das
Biegungsmoment für einen Querschnitt angesetzt oder die Formänderung ermittelt
werden kann, der Träger „freigemacht“ und alle an ihm angreifenden Lasten und
Widerstände angebracht werden, damit der ursprüngliche Gleichgewichtszustand wieder
hergestellt ist. Dieses fundamentale und stereotype Vorgehen muß der Studierende mit
Sicherheit handhaben können. Dazu muß ihm die Sachlage anschaulich klar werden und
zu diesem Zweck sind schon früher unter der Leitung von Prof. Dr. Enßlin an der Höh. Maschinenbauschule
Eßlingen-Stuttgart verschiedene Modelle hergestellt worden, die nunmehr vom
Verfasser in einem einzigen Modell vereinigt worden sind.
Insbesondere soll dem Studierenden der Begriff des Einspannmoments näher gebracht
werden und der Zusammenhang zwischen Formänderung, Reaktion und Reaktionsmomenten.
Er soll sehen, daß man solche Momente ebenso wie die Reaktionen abwägen kann, und er
soll dahin gebracht werden zu erkennen, daß sich mit dem Kreispfeil, den er für ein
Reaktionsmoment in die Stabskizze einzuzeichnen pflegt, eine klare Anschauung
verbindet.
In sehr anschaulicher Weise ist auch Prof. Hanffstengel
vorgegangen,G. v. Hanffstengel: Technisches Denken und Schaffen. J. Springer
1920. indem er die unsichtbaren Kräfte an den Auflagern durch
Anzeichnen von männlichen Figuren sichtbar gestaltet und sie so dem Gefühl näher
bringt.Auch die inneren Kräfte bei Stab- und Fachwerken werden dabei durch Zug oder
Druck von Männern charakterisiert, wobei aber immer daran zu denken ist, daß
da, wo ein solcher Mann gezeichnet ist, in Wirklichkeit 2 Kräfte wirken,
weil an dieser Stelle ein Druckzustand zwischen 2 Körpern vorhanden ist, der
zur Folge hat, daß bei jedem der zwei Körper, dem drückenden und dem
gedrückten eine Formänderung entsteht. Jeder dieser Formänderungen kommt
eine Kraft zu, so daß man also beim Auseinandertrennen des drückenden und
gedrückten Körpers 2 Kräfte erhält, die wieder in 1 Kraft zusammenfallen,
sobald man die Sache als Ganzes ansieht.
Das Modell ist vielseitiger Verwendung fähig; man kann in kurzer Zeit einen geraden
Träger, einen Bogen-träger und einen rechteckigen Rahmen unter verschiedenen
Auflagerbedingungen einbauen.
Textabbildung Bd. 336, S. 60
Abb. 1.
Textabbildung Bd. 336, S. 60
Abb. 1a.
Textabbildung Bd. 336, S. 60
Abb. 1b.
Das Wesen des Modells ist in den Abb. 1 angedeutet:
Ein beliebiger, in diesem Fall gekrümmter Träger, ruht auf 2 Unterlagen. Diese
können durch Drehung in jede gewünschte Lage gebracht werden; auf ihnen kann sich
der irgendwie belastete Träger vollkommen frei bewegen. Außer dieser freien
Beweglichkeit der Trägerenden kann auch deren gelenkige Drehbarkeit oder feste
Einspannung in Lagern veranschaulicht werden. Durch Kombination dieser
Lagerungsarten in Bezug auf die beiden Trägerenden können sämtliche, überhaupt
mögliche Befestigungen von Balken u. dgl. und damit eine mannigfache Zahl von
Demonstrationsversuchen vorgeführt werden. Wie an einem Bogenträger, so kann das
Gesagte auch an einem geraden Träger, sowie an einem Rahmenträger gezeigt werden.
Die Belastung kann man als Einzellast anhängen oder kann sie auch gleichmäßig
verteilt wirken lassen. Greift sie als Einzellast an einer beliebigen Stelle des
vollständig frei beweglichen Trägers an (s. Abb. 2)
so wird der Träger einzig durch Anbringen der 2 Vertikalauflagerwiderstände V1 und V2
„freigemacht.“ Soll die freie Beweglichkeit der Trägerenden aufgehoben und
durch drehbare Lagerung ersetzt werden, so tritt ein neuer Zwang hinzu, dessen
Freimachung das Anbringen zweier gleichgroßer Kräfte H (sog. Horizontalschub)
erfordert. Diese sind bekanntlich statisch. unbestimmte Kräfte, deren Größe am
Modell durch Abwägen leicht festzustellen sind. Die sich einstellende Formänderung
des Trägers (in Abb. 2 gestrichelt angegeben) ergibt
ein Abweichen der Tangentenrichtung an den Enden gegenüber der ursprünglichen
Richtung um die Winkel α1 und α2.
Wenn nun weiter zum Fall der Einspannung übergegangen werden soll, so ist zu
bedenken, daß durch die Einspannung, d.h. die absolut starre Befestigung, ein
Ausbiegen des Trägers an seinen Enden nicht stattfinden kann, so daß also der durch
die Kraft H verbogene Träger zurückzubiegen ist, solange bis die anfängliche
Tangentenrichtung wieder erreicht ist, d.h. bis die Winkel α1 und α2 zu Null geworden sind (Formänderung durch
Einspannung in Abb. 2 punktiert angedeutet). Dieses
Zurückbiegen an den Befestigungsstellen erfordert dort jeweils ein Kräftepaar, das
bekannte Einspannmoment, das also die Wirkung des durch Einspannung erfolgten Zwangs
auf den Träger vorstellt und in seiner Größe durch Abwägen am Modell festgestellt
werden kann. Das Einspannmoment verursacht an dem Balken eine Spreizwirkung,
weswegen sich die Horizontalkraft H gegenüber seither verändert.
Nachdem so die erwähnten Kräfte der Reihe nach in Wirkung getreten sind, sieht der
Beschauer des Modells, daß dieses sich in vollkommener Ruhe befindet und daß die
Lage des Trägers im Raum mit der ursprünglichen wieder übereinstimmt, daß also
m. a. W. der gesamte Körper nicht aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Der
Körper ist damit frei gemacht und zu weiteren Untersuchungen gemäß den Bedingungen
der Statik klargestellt. Danach muß außer Σ V = o u. Σ H = o, die algebr. Summe der
Momente der äußeren Kräfte gleich Null sein, wovon sich der Uebende leicht
überzeugen kann, denn die Abwägungen bestätigen, daß
P × b = V1 × a + M1 + M2.
Der mit dem Modell Arbeitende erkennt auch, daß die zuletzt zustande gekommene
Gesamterscheinung sich aufbaut auf der gleichzeitigen Wirkung dreier
Einzelerscheinungen, welche der Reihe nach sind:
1. Wirken der Belastung P allein
2. Wirken der Horizontalkraft H allein
3. Wirken der Einspannmomente M allein.
Textabbildung Bd. 336, S. 60
Abb. 2.
Textabbildung Bd. 336, S. 60
Abb. 3.
Textabbildung Bd. 336, S. 60
Abb. 4.
Textabbildung Bd. 336, S. 60
Abb. 5.
Im Zusammenhang damit kann auf das bekannte Superpositionsgesetz hingewiesen werden,
welches bezüglich des eingespannten Trägers verlangt, daß die bei den erwähnten 3
Einzelerscheinungen gegenüber dem ursprünglichen Ruhezustand zustande kommenden
Aenderungen in den Tangentenrichtungen des Trägers an den Lagerstellen algebraisch
addiert gleich Null sein müssen. Dies bestätigt der Modellversuch sehr schön. Die
Abb. 3 bis 5
veranschaulichen die besprochenen 3 Einzelerscheinungen. Besonders Interessantes
bietet das Wirken der Einspannmomente. Die beiden Momente sind ungleich groß und
haben denselben Drehsinn. Sie bringen an den Lagerstellen Vertikalreaktionen hervor,
die gleich groß, doch umgekehrt gerichtet sind, somit 1 Kräftepaar bilden, das zu den
Einspannmomenten das Reaktionsmoment bildet, das Gleichgewicht des Trägers damit
herstellt. Durch die Einspannung kommt also eine Aenderung der
Vertikalauflagerwiderstände der Abb. 3 zustande und
der diesbezügliche Vergleich der Abb. 3 und 5 ergibt als resultierenden Auflagewiderstand die
Kraft V1 und V2 der
Abb. 2.
Wirkt im speziellen Fall die Belastung P in der Trägermitte, dann werden die
Einspannmomente gleich groß und einander entgegengesetzt, wodurch sich die durch die
Einspannmomente bewirkten Vertikalkräfte gegenseitig aufheben. Die Einspannung ruft,
wie schon erwähnt, auch noch eine Aenderung der Horizontalkräfte hervor, infolge der
spreizenden Wirkung der Momente M1 und M2, was ebenfalls klar und deutlich am Modell sich
dartut. Die Abb. 6 läßt die aus den Winkeln α', α'' und α''' dem
ursprünglichen Tangentenrichtungswinkel α gegenüber
sich ergebenden Winkeländerungen β1, β2 und β3 erkennen
und es ergibt sich, wie schon oben als notwendig nachgewiesen:
β1 – β2 + β3 = 0.
Textabbildung Bd. 336, S. 61
Abb. 6.
In analoger Weise wie am Bogenträger lassen sich nun die erwähnten Erscheinungen auch
an geraden Balken vorführen.
(Schluß folgt.)