Titel: | Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart. |
Autor: | M. Richter |
Fundstelle: | Band 317, Jahrgang 1902, S. 539 |
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Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart.
Von Ingenieur M. Richter, Bingen.
(Fortsetzung von S. 78 d. Bd.)
Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart.
Die folgenden Zeilen sollen denjenigen, welche nicht Gelegenheit gehabt haben,
die Weltausstellung Paris 1900 bezw. den Annex in Vincennes zu besuchen, oder
solchen, welchen die Reihe der vorgeführten Muster von Schnellzuglokomotiven nicht
die nötige Vollständigkeit zu besitzen schien, einen gewissen Ersatz bieten, soweit
es sich um einen umfassenden Ueberblick über die heute und in der nächsten Zukunft
üblichen, zur Beförderung von Schnellzügen im weitesten Sinne des Wortes dienenden
Bauarten der Lokomotive handelt. Ein Eingehen in Einzelheiten würde, besonders wenn
diese mit schon vorhandenen Normalien sich decken, eine dem vorliegenden Thema
ungünstige Erweiterung, ja sogar Zersplitterung des Rahmens bedingen und soll daher
im allgemeinen vermieden werden. Die nötigen Rücksichten lassen sich im Text durch
einige Bemerkungen genügend erledigen, was zum Klarhalten des Stoffes vorteilhaft
ist.
Die Leistungsfähigkeit der Schnellzuglokomotive soll durch eine internationale
Ausstellung der modernsten Typen auf dem Papier beleuchtet werden, wobei die
schematische Darstellung der Bauart, bezw. die äussere Ansicht durch die Angaben der
Hauptabmessungen, Verhältnisse und Wertziffern, sowie durch Bemerkungen über das
Verhalten bei Probefahrten und im täglichen Betrieb, endlich durch Belastungs- und
Geschwindigkeitstabellen unterstützt werden möge, so dass die Beurteilung und
Vergleichung der einzelnen Typen nach ihrer Brauchbarkeit und der davon abhängigen
Existenzberechtigung sehr einfach ausfällt. Was die Einteilung des Stoffes betrifft,
so ist die Frage, ob die Gruppierung nach der Gesamtzahl der Achsen oder nach der
Zahl der Triebachsen zu geschehen hat, durch die Herkunft der
Schnellzuglokomotive gelöst: Geschwindigkeit, Leistung, Kesselgewicht, Gesamtzahl
der Achsen sind gleichwertige, untereinander proportionale Massstäbe, welche an die
Lokomotive anzulegen sind. Die Gruppierung muss daher der Zahl sämtlicher Achsen der
Lokomotive, genauer auch diejenigen des Tenders inbegriffen, entsprechen; die Zahl
der Triebachsen kommt, zu höheren Werten ansteigend, erst in zweiter Linie in
Betracht, da die Mehrkuppelung von Achsen bei gegebenem Dienstgewicht nur eine
Vergrösserung der Zugkraft, nicht aber der Geschwindigkeit bedingt; die
Unterabteilungen richten sich somit nach der Zahl der Triebachsen, mit der das
Adhäsionsgewicht bezw. die nutzbare Zugkraft, aber nicht die Leistung
zusammenhängt.
Die Kennzeichnung der Bauart geschieht bekanntlich mit Rücksicht auf diese Umstände
durch einen Bruch, der das Verhältnis der Zahl der Triebachsen zur Gesamtzahl der
Achsen darstellt, in seinem Zähler also einen Massstab der Kraft, in seinem Nenner
einen Massstab der Geschwindigkeit (Leistung) enthält; während der Nenner
naturgemäss sich langsam vergrössert hat, muss der Zähler zurückbleiben, damit die
Schnelllokomotive nicht in die Kraftlokomotive übergeht, die gewählte Einteilung
erscheint daher begründet. In dem Bruch drückt sich sehr klar die zunehmende
Vergrösserung der toten Last aus, er kann deshalb den kommerziellen Wirkungsgrad
\left(\frac{\mbox{Nutzlast}}{\mbox{Gesamtlast}}\right) ersetzen, und selbst als Wirkungsgrad bezeichnet werden: \frac{\mbox{Nutzachsen}}{\mbox{Gesamtachsen}} für
die Lokomotive an sich.
Dieses Verhältnis heisse „Achsziffer“ zur Abkürzung, und es sind zwei
Achsziffern vorhanden:
Die erste mit Weglassung der Tenderachsen ist der oben erwähnte gewöhnlich benutzte
Bruch, welcher von Rechts wegen auf die Tenderlokomotive nicht angewendet werden
dürfte, da bei dieser eben stets die von der Maschine unzertrennlichen Vorratskästen
schon mit berücksichtigt sind. Gerechter erscheint daher zur Kennzeichnung der
Bauart die zweite Ziffer, deren Nenner sämtliche Achsen einschliesslich des Tenders
enthält.
Ist die Zahl der Triebachsen A, der Lokomotivachsen im
ganzen Am, der
Tenderachsen At, die
Achsziffer η' η'', so ist die „erste“
Achsziffer
\eta'=\frac{A}{A_m},
die „zweite“ Achsziffer
\eta''=\frac{A}{A_m+A_t}.
Diese Achsziffern haben klassifizierende Bedeutung.
Ist ferner das Adhäsionsgewicht La, das Dienstgewicht der Maschine Lm, des Tenders Lt, so können zwei weitere wichtige
Güteverhältnisse gebildet werden, welche als „Gewichtsziffern“ zu bezeichnen
wären und das Verhältnis des Adhäsionsgewichts zum Dienstgewicht angeben, nämlich
die „erste“ Gewichtsziffer
\eta_1=\frac{L_{\alpha}}{L_m}
die „zweite“ Gewichtsziffer
\eta_2=\frac{L_{\alpha}}{L_m+L_t}
Die Gewichtsziffern sind zwar den Achsziffern analog, aber für verschiedene Bauarten
derselben Klasse verschieden; sie haben daher spezialisierende, individuelle
Bedeutung.
Auch hier muss die Trennung zwischen Schlepptender und Tenderlokomotive
stattfinden.
Dieselbe Rücksicht ist zu beachten bei der Berechnung der als „Kraftwert“ und
„Geschwindigkeitswert“ bezeichneten Verhältnisse w1 und w2 (1901 316 362). Wird
bei der Tenderlokomotive unter „Dienstgewicht“ stets dasjenige mit Einschluss
der Vorräte, bezw. der zur Aufnahme derselben nötigen Tragachsen verstanden, so muss
sich diese Anschauung ebensogut auch auf Maschinen mit Schlepptender erstrecken. Bei
beiden Lokomotivarten wird dann die zu erwartende Ausdauer in ihrer Abhängigkeit von
der Menge der mitgeführten Vorräte und von den Zugeständnissen an die Höhe der toten
Last im allgemeinen zum Ausdruck kommen. Mindestens ist es geboten, die erwähnten
Werte zweifach, nämlich mit und ohne Einschluss des Tenders aufzustellen, ersteres
einer gerechten Vergleichung wegen, letzteres dem üblichen Gebrauch zu Liebe.
Einerseits ist zwar der Schlepptender mit der Maschine nicht so innig verbunden,
dass er nicht, ohne den geringsten Einfluss auf die letztere, jederzeit mit einem
leichteren oder schwereren vertauscht werden könnte, womit allerdings sein Gewicht
die Berechtigung verliert, als Konstante in den Wertziffern mitzuspielen;
andererseits aber muss logischerweise alles, was vor dem Tenderzughaken, ohne Arbeit
zu leisten, im Zuge mitläuft, als tote Last betrachtet werden, ohne Rücksicht
darauf, ob nun die Vorräte in einem besonderen Wagen oder auf dem Maschinengestell
mitgeführt werden.
Dieser Widerspruch kann nur so gehoben werden, dass man eine bloss äusserliche
Kennzeichnung der Bauart durch die erste Achsziffer η',
eine Beurteilung des kommerziellen Wirkungsgrades dagegen durch die zweite
Achsziffer η'' vornimmt; eine Trennung der beiden
Angaben wird sich im folgenden oft als passend erweisen.
Endlich soll an die „Ladeziffer“ des Tenders
\left(\frac{\mbox{Gewicht der
Vorräte}}{\mbox{Dienstgewicht}}\right) erinnert werden.
In den Tabellen ist die „Maschinen“zugkraft Z1 (für geringe Geschwindigkeiten) nach den Formeln
berechnet (d Durchmesser des Hochdruck-, d1 des
Niederdruckcylinders):
für Zwillingsmaschinen (α = 0,5):
Z_1=\alpha\,\frac{d^2\,s\,p}{D}
für Verbundmaschinen mit einem Niederdruckcylinder:
Z_1=\alpha\,\frac{{d_1}^2\,s\,p}{2\,D}
für Verbundmaschinen mit zwei Niederdruckcylindern:
Z_1=\alpha\,\frac{{d_1}^2\,s\,p}{D}
wobei der Einheitlichkeit wegen für alle Kolbenverhältnisse
α = 0,4 gesetzt werden soll.
Ferner ist die „Adhäsions“zugkraft Z2 (aus dem Adhäsionsgewicht), unter welcher die
Maschinenzugkraft Z1
bleiben muss, wenn Schleudern vermieden werden soll, für einen mittleren
Adhäsionskoeffizient \frac{Z_2}{L_n}=\frac{1}{6} berechnet mit
Z2 = 0,167 Lα
und die „Kraftziffer“
\frac{Z_2}{Z_1} gebildet, um auszudrücken, wieviel Prozent der Maschinenkraft als Reibung
verwendbar sind bei mittleren Verhältnissen.
In den Tabellen finden sich somit folgende Wertziffern:
die Kraftziffer \frac{Z_2}{Z_1}
(Adhäsion: Maschinenkraft)
die Gewichtsziffern η1 η2
(Adhäsionsgew.: Dienstgew.)
die Ladeziffer wt
(Ladegew.: Tenderdienstgew.)
die Kraftwerte w1' w1''
(Maschinenkraft: Dienstgew.)
die Geschwindigkeitswerte w2' w2''
(Leistung: Dienstgewicht).
Die Einteilung der heutigen Bauarten ist nun folgende:
a) Verkehr auf durchgehenden Hauptbahnen:
Lokomotiven mit Schlepptender.
α)
Mittlere Leistungen: Vierachsige Lokomotiven.
1. Mässige Belastung, hohe Geschwindigkeit:
¼ gek. L.
2. Mittlere Belastung, mittlere Geschwindigkeit:
2/4 gek. L.
3. Hohe Belastung, massige Geschwindigkeit:
¾ gek. L.
β)
Hohe Leistungen: Fünfachsige Lokomotiven.
1. Mittlerere Belastung, hohe Geschwindigkeit:
⅖ gek. L.
2. Hohe Belastung, mittlere Geschwindigkeit:
⅗ gek. L.
b) Vorort- und Lokalverkehr:
Tenderlokomotiven.
α)
Mässige Leistungen: Vierachsige Lokomotiven.
1. Mittlere Belastung, massige Geschwindigkeit:
2/4 gek. L.
2. Hohe Belastung, massige Geschwindigkeit:
¾ gek. L.
β)
Mittlere Leistungen: Fünfachsige Lokomotiven.
1. Mittlere Belastung, mittlere Geschwindigkeit:
⅖ gek. L.
2. Hohe Belastung, massige Geschwindigkeit:
⅗ gek. L.
Als normal sollen hier nur diese Bauarten gelten. Besonders unter b) kommen auch noch
andere Achsziffern vor, wobei der Nenner meistens nur durch die Menge der
mitgeführten Vorräte beeinflusst wird. Für die Abteilung a) ist daher die Achsziffer
η', für die Abteilung b) die Achsziffer η'' gewählt. Verschiebungen im Rang innerhalb dieser
Gruppierung sind keineswegs ausgeschlossen, da die Ausdrücke „mässig, mittel,
hoch“ sehr allgemein sind, und die Massstäbe dafür nicht nur für
Geschwindigkeit und Belastung, sondern auch für gleichartige Typen verschiedener
Länder (besonders bei der Vergleichung amerikanischer und europäischer
Verhältnisse), je nach Grösse und Anstrengung der Maschine verschiedene sein
müssen.
In Amerika sind die Zugbelastungen zwei- bis dreimal so hoch als bei uns bei gleicher
Geschwindigkeit, umgekehrt die letztere bei gleicher Belastung manchmal um die
Hälfte höher als bei uns. Ohne besondere Voraussetzungen und Begriffserweiterungen
kann deshalb die Anstrengung gleicher Typen, d.h. Typen mit gleichen Achsziffern, in
verschiedenen Ländern nicht durch dieselben Worte angegeben werden.
Zum Beispiel: die ⅖ gekuppelte Schnellzuglokomotive der Pfalzbahn befördert einen Zug
von 320 t Gewicht einschliesslich Maschine und Tender mit 90 km/Std., die ⅖
gekuppelte Schnellzuglokomotive der New Yorker Zentralbahn dagegen befördert einen
Zug vom Gesamtgewicht 800 t mit 97 km/Std.; diese grosse Verschiedenheit in der Leistung
ist nur durch die Verschiedenheit der Abmessungen bedingt, wenn man gleichartige
Anstrengung des Blasrohrs und
Qualität des Brennstoffs voraussetzt, was allerdings nicht zutrifft. Der
Achsziffer ⅖ entsprechend müssen trotzdem beide Maschinen in die Kategorie a β 1 der vorigen Zusammenstellung eingereiht werden,
wobei eben dann für die Anstrengung der deutschen Lokomotive ein europäischer, für
diejenige der amerikanischen ein amerikanischer Massstab anzulegen ist.
Aehnliche Bemerkungen sind im Gebiet der Tenderlokomotive zu machen; zu Gunsten der
Leistung, noch mehr aber der Grösse der Vorratsräume sind in Amerika vielachsige
Lokomotiven auch im Vorortverkehr üblich, welche überhaupt nicht unter die
aufgeführten Titel gebracht werden können (ausgenommen die älteren, leichten
Maschinen der Hochbahnen in New York, Chicago), so z.B. die 3/7 gekuppelte
Untergrundlokomotive der New Yorker Zentralbahn.
a) Lokomotiven mit Schlepptender.
Wie schon ausgeführt (1901 316 363), bedingt die
Vergrösserung der Ansprüche des Verkehrs zwei Verschlechterungen des kommerziellen
Wirkungsgrades und damit auch der Achsziffern: einerseits eine Erhöhung der toten
Last infolge des für die höhere Leistung nötigen grösseren Kessels; andererseits
eine Erhöhung der toten Last infolge des für grössere Ausdauer der Leistung, sowie
für den grösseren Materialverbrauch nötigen grösseren Tenders, wovon nur die Bahnen
mit Wassertrögen nicht betroffen werden. Geht man über die zahllosen
Entwickelungsstufen weg, welche die Lokomotive von ihrer ersten Form, die
bezeichnenderweise schon nicht den besten kommerziellen Wirkungsgrad besass, bis
heute durchlaufen hat, stellt die älteste Form der neuesten entgegen und trennt den
Schnellbetrieb vom Kraftbetrieb, so gewinnt man den Ueberblick (Fig. 1 bis 4).
Textabbildung Bd. 317, S. 541
Fig. 21.
Textabbildung Bd. 317, S. 541
Fig. 22.
Textabbildung Bd. 317, S. 541
Fig. 23.
Textabbildung Bd. 317, S. 541
Fig. 24.
Verwendung
Jahr
Achsziffer η'
Achsziffer η''
Figur
Schnellbetrieb
18301900
½ = 50 % ⅖ = 40 „
¼ = 25 % 2/9 = 22 „
2122
Kraftbetrieb
18301900
2/2 = 100 „ ⅗ = 60 „
2/4 = 50 „ 3/9 = 33 „
2324
Die stetige Zunahme der toten Last prägt sich darin deutlich aus, welche nur mit der
Steigerung der Geschwindigkeit, soweit es die Werte η',
aber mit der gleichzeitigen Steigerung von Geschwindigkeit und Ausdauer, soweit es
die Werte η'' betrifft, zusammenhängt. Die hier
benutzten Beispiele sind Grenzfälle der gebräuchlichen Ausführungen von heute und
damals; durch Einführung der Achsziffer ist die sehr veränderliche Grösse der
Achsbelastungen ausgeschaltet. Durch Aufstellung des Verhältnisses zwischen
Adhäsionsgewicht und Dienstgewicht verliert der Gegensatz seine allgemeine
Gültigkeit und ist nur für bestimmte Bauarten noch brauchbar, wofür die folgenden
Beispiele dienen mögen:
Bahn
η
η''
Adh.-Ge-wicht
Dienstgewicht
η
1
η
2
Ma-schine
Tender
New York ZentralFranz. Nord
⅖
2/9
43 t33 „
80 t63 „
50 t46 „
54 %52 „
33 a30 „
Atch. Top. St. FéElsass-Lothr.
⅗
3/9
66 „47 „
95 „69 „
55 „47 „
70 „68,
44 „40 „
Auffallend ist, dass bei den verschiedenen Abmessungen die Verhältnisse für die
Maschinen derselben Klasse doch fast die gleichen sind, d.h. dass die Gleichheit der
Achsziffern auch die Gleichheit der Gewichtsziffern bedingt, ein Beweis dafür, dass
die Ziffern proportional sind. Die amerikanischen Lokomotiven weisen dabei noch eine
geringe Ueberlegenheit auf, welche noch grösser wäre, wenn nicht der Tender solche
Abmessungen besässe, dass sein Gewicht meistens das Adhäsionsgewicht erreicht, oft
aber übersteigt; letzteres tritt natürlich wieder bei den Lokomotiven mit geringer
Zugkraft schneller ein als bei solchen mit grösserer.
Wie die vorausgegangene Zusammenstellung zeigt, besitzt die heutige
Schnellzuglokomotive fast ausnahmslos vier oder fünf Achsen, je nach den an sie
tretenden Ansprüchen, und ausnahmslos im Durchgangsverkehr einen Schlepptender auf
drei oder vier, in vereinzelten Fällen nur auf zwei Achsen, je nach der verlangten
Ausdauer und dem Vorhandensein von Wassertrögen auf freier Strecke. Als Ausnahmen
sind nur zu erwähnen: die 3/6 gekuppelten Lokomotiven einiger Bahnen in Amerika,
welche jedoch gerade nicht neuesten Datums sind, und die 2/7 gekuppelte Thuile'sche Lokomotive mit fünfachsigem Tender, welche
sich in Paris 1900 zeigte; andere Abweichungen sind wohl noch nicht vorgekommen. Zu
besprechen ist daher:
α) Die vierachsige Lokomotive.
Dieselbe ist die heute verbreitetste Gattung, welche sich auch des grössten Ansehens
erfreut und überhaupt erst seit etwa 15 Jahren sich zu der heutigen Brauchbarkeit
entwickelt hat, ohne dadurch aber zu verhindern, dass schon wieder ein stärkerer
Nachfolger (die fünfachsige Lokomotive), der sich in der Stille ausgebildet hat,
nachdem er lange Jahre ein vereinzeltes Dasein geführt hatte, plötzlich auftreten
und sich in kurzer Zeit ein grosses Gebiet erobern konnte. Nur durch Erhöhung der
zulässigen Achsbelastung, durch die Annahme des Verbundsystems und des
Dampfüberhitzers gelingt es der vierachsigen Lokomotive, wenigstens da, wo sie
selbst erst vor kurzer Zeit Eingang gefunden hat, oder wo die Betriebsweise eine
Ueberlastung verhindert, sich noch längere Zeit zu halten.
Ansprüchen, welche bis zu 1300 PS höchstens gehen, kann die Lokomotive auf vier
Achsen genügen. Das Hinzutreten einer vierten zu den vorher vorhandenen drei Achsen
war bloss durch die vermehrte Leistung, also tote Last erforderlich geworden,
während die vermehrte Zugkraft durch höhere Achsdrücke auf stärkerem Oberbau, ohne
Vermehrung der Zahl der Triebachsen, erzielt wurde. Die sehr verschiedenartigen
Forderungen, denen die Lokomotive auf verschiedenen Verkehrsadern unterworfen ist,
haben im übrigen eine weitgehende Zersplitterung der Bauarten, ein Eingehen auf alle
möglichen Rücksichten gezeitigt. In fallenden Potenzen der Geschwindigkeit, in
steigenden Potenzen der Zugkraft geordnet, sind diese Bauarten diejenigen mit einer,
zwei, drei Triebachsen, soweit es sich um Schnellbetrieb handelt.
1. Die ¼ gekuppelte Schnellzuglokomotive.
Diese höchst beachtenswerte Type mit freier Triebachse besteht mit zwei vereinzelten
Ausnahmen zur Zeit nur in England, wo sie als „single flyer“ in
unangetastetem Ansehen die besten Schnellzüge führt. Ihre Entstehung
aus der ⅓ g!kuppelten Type entspricht den Rücksichten auf die höhere Leistung,
die die steigende Zuglast hinter dem Tender verlangt; wobei aber auch das Bedürfnis
nach einem längeren Radstand mit gleichzeitiger Kurvenbeweglichkeit im Interesse der
hohen Geschwindigkeit mitwirkt. Vorgänger besass diese sehr moderne, aber spezifisch
englische Gattung diesseits und jenseits des Kanals in grösster Menge, und zwar in
zwei nebeneinander laufenden Bauarten von verschiedener Herkunft und Anordnung.
Textabbildung Bd. 317, S. 542
Fig. 25. Typus „Stephenson“.
Textabbildung Bd. 317, S. 542
Fig. 26. Typus „Crampton“.
I. Der ältere „Typus Stephenson“ (Fig. 25), etwa aus dem Jahre 1835, in sehr
verschiedenen Formen (mit äusseren und inneren Rahmen, äusseren und inneren
Cylindern, überhängender und gestützter Feuerbüchse u.s.w.) zahlreich verbreitet, in
den Anfängen des Eisenbahnwesens überall in Europa vertreten, in späteren Jahren nur
noch in Norddeutschland und England recht heimisch, starb Ende der achtziger Jahre
aus, um der modernen Form Platz zu machen, bei der an die Stelle der vorderen
Laufachse ein Drehgestell trat, bei entsprechender Verstärkung von Maschine und
Kessel.
II. Der „Typus Crampton“ (Fig. 26), aus dem Jahre 1850, kam in den fünfziger
Jahren in Süddeutschland und Frankreich zu umfangreicher Verwendung, starb mit der
vorigen Bauart aus, ohne jedoch einen Nachfolger zu erhalten. Der vielleicht
allerletzte Vertreter der einst so berühmten Klasse „Crampton“ sieht
gegenwärtig in Mannheim seinem Untergang entgegen, wenn derselbe nicht schon erfolgt
ist, nachdem er etwa 40 Jahre lang der badischen Staatsbahn Dienste geleistet und
dabei die meisten seiner gleichartigen Genossen um 20 Jahre überlebt hat. In
Deutschland sorgt kein South Kensington-Museum für die Erhaltung solcher ehrwürdigen
Denkmäler.
Textabbildung Bd. 317, S. 542
Fig. 27.
Textabbildung Bd. 317, S. 542
Fig. 28.
Die Zuglasten sind bei der Betriebsweise des europäischen Festlandes so hoch und die
zulässigen Achsdrücke gleichzeitig so gering (14 bis 16,5 t), dass jedenfalls eine
künftige Wiederholung der ungekuppelten Lokomotive auf dem Festland ganz
ausgeschlossen ist, während sie für England ein Ideal darstellt. Zur Erhaltung des
Beharrungszustandes ist bei einem leichteren Schnellzug eine Zugkraft nötig, welche
bequem von einer 17 bis 19 t belasteten Einzeltriebachse abgegeben werden kann; für
die Abgabe der grossen Anfahrzugkraft sorgen vorzüglich konstruierte
Sandstreuapparate, ohne welche allerdings die ungekuppelte Maschine nicht brauchbar
ist. Da ferner die Zugkraft hinter der Geschwindigkeit zurücktritt bei der Wahl der
Abmessungen, so erhalten die Triebräder grossen Durchmesser von 2,1 bis 2,5 m. Die
geringere Tourenzahl trägt zum ruhigen Gang bei, welcher noch durch die meist
inneren Cylinder unterstützt wird, ferner zur Erhöhung des
Kesselwirkungsgrades, wodurch der geringe Ausfall an spezifischer Kesselleistung
\left(\frac{N}{H}=a\,\sqrt{n}\right), besonders bei Verwendung guter Kohle gedeckt werden kann; endlich ist
auch der mechanische Wirkungsgrad der Dampfmaschine ein guter, so dass thatsächlich
in der ungekuppelten Maschine sich eine Reihe von Vorzügen vereinigt, denen der
geringe kommerzielle Wirkungsgrad (die geringe Achs- und Gewichtsziffer) leider
feindlich gegenüberstehen muss.
Die Lokomotive mit freier Triebachse ist gerade wegen dieser unbestrittenen Punkte in
den letzten zehn Jahren sorgfältig ausgearbeitet worden und gehört zu den Normalien
aller englischen Hauptbahnen. Ihre Leistungsfähigkeit ist auf der Ostbahn durch die
Oelfeuerung, ihre Ausdauer und ihr kommerzieller Wirkungsgrad auf der Ostbahn und
mehreren anderen Bahnen durch die Tenderfüllvorrichtung noch bedeutend gehoben.
Die zeitgenössische Fachlitteratur hat sich zur Genüge mit der ¼ gekuppelten
Lokomotive der Midland-Bahn abgegeben, welche in Paris 1900 zu sehen war, so dass
hier nicht näher auf dieselbe eingegangen werden soll. Erwähnt sei nur, dass
dieselbe, als der ungünstigste Vertreter der Klasse, besser nicht ausgestellt worden
wäre, da sie einen nicht mit Wasserschöpfer versehenen schweren vierachsigen Tender
führte, so dass sowohl die Achs- wie die Gewichtsziffer besonders schlecht ist.
Die bedenkliche Abnahme dieser Werte erhellt am besten aus den beistehenden Skizzen,
von denen die erste (Fig. 27) eine Maschine der
älteren Art, die zweite (Fig. 28) die in Paris 1900
ausgestellte Midland-Lokomotive darstellt.
Textabbildung Bd. 317, S. 542
Fig. 29. Great Eastern, England.
Diese Lokomotiven besitzen im allgemeinen folgende Abmessungen:
Cylinderdurchmesser
457
bis
495
mm
Kolbenhub
610
„
711
„
Triebraddurchmesser
2134
„
2448
„
Kesseldruck
11,3
„
14,6
at
Rostfläche
1,86
„
2,3
qm
Heizfläche
87,4
„
131,7
„
Adhäsionsgewicht
18,2
„
19,3
t
Dienstgewicht
45,2
„
51,0
„
Vorräte
KohlenWasser
3 12,7
„„
5 18,2
„„
Tendergewicht
36,5
„
49,9
„
Gesamtgewicht
85,2
„
100,8
„
Von den unter sich ziemlich gleichartigen Ausführungen der ¼ gekuppelten Lokomotive
sei hier diejenige der Ostbahn (G. E. R.) Westbahn (G. W. R.) und Nordbahn (G. N.
R.) als typisch herausgegriffen, dabei aber sei bemerkt, dass leider keine
derselben alle Vorzüge auf einmal in sich vereinigt, indem z.B. die Maschine der
Ostbahn den übrigen gegenüber wieder durch etwas zu geringen Kesseldruck lahm gelegt
ist.
Bei der Berechnung des Geschwindigkeitswertes
\frac{N}{L}=a\,\left(\frac{H}{L}\right)\,\sqrt{n}
ist einheitlich a = 0,46 gesetzt,
sowie eine Geschwindigkeit von 97 km/Std. (60 engl. Meilen) der Tourenzahl zu Grunde
gelegt und 90 % der äusseren Heizfläche als wirksam angenommen.
Vier Maschinen sind durch Skizzen und Photographien (Fig.
29 bis 32) und die folgende Tabelle
wiedergegeben,
in der sich die eingeklammerten Zahlen auf das Gesamtgewicht einschliesslich
Tender beziehen.
Textabbildung Bd. 317, S. 543
Fig. 30a. Great Western, England.
Textabbildung Bd. 317, S. 543
Fig. 30b.
Ostbahn
Westbahn
Nordbahn
a
b
Cylinderdurchmesser
mm
457
483
495
483
Kolbenhub
„
660
610
712
660
Triebraddurchmesser
„
2134
2340
2480
2318
Kesseldruck
at
11,3
12,7
12,3
12,0
Aeussere Heizfläche
qm
119
154
112
118
Rostfläche
„
1,98
1,98
2,17
2,16
Adhäsionsgewicht
t
19,3
18,4
18,4
18,4
Dienstgewicht
ohne Tendermit
„„
49,385,8
51,784,8
46,689,1
48,590,2
Vorräte
KohlenWasser
„„
3,18 (Oel)12,65
4,0713,6
5,117,5
5,116,7
TourenzahlLeistung
bei 97 km/Std.
PS
240770
219945
206665
220725
Adhäsionszugkraft Z2
kg
3220
6060
3070
3070
Maschinenzugkraft Z1
„
3670
3820
4350
3980
Kraftziffer \frac{Z_2}{Z_1}
0,88
0,79
0,71
0,77
Gewichtsziffern
0,39 (0,23)
0,354 (0,22)
0,395 (0,21)
0,38 (0,20)
Ladeziffer
0,43
0,53
0,53
0,52
Kraftwerte \frac{Z_1}{L}
kg/t
74 (43)
74 (45)
93 (49)
82 (44)
Geschwindigkeitswerte \frac{N}{L}
PS/t
15,6 (9)
18,2 (11,1)
14,3 (7,5)
14,9 (8)
Die Tabelle zeigt, dass die Hauptabmessungen der ¼ gekuppelten Maschine sich nur in
der Grösse der Triebräder und dem Adhäsionsgewicht von denjenigen der 2/4 gekuppelten
unterscheiden. Die Vergleichung ergibt ferner, dass die Maschine der Westbahn ihr
Gesamtgewicht hinsichtlich der Leistung am vorteilhaftesten ausnutzt und auch den
günstigsten Tender führt, dass sie somit neben der höchsten absoluten auch die beste
spezifische Leistung aufweist und daher für den Schnellbetrieb als günstigste der
angeführten Bauarten bezeichnet werden muss, wenn auch die Maschine a der Nordbahn eine spezifisch höhere Zugkraft,
diejenige der Ostbahn eine bessere Ausnutzung des Adhäsionsgewichts zeigt. Trifft
dies zu bei gleichen Zugsgeschwindigkeiten, so wird der Gegensatz noch auffallender
bei gleichen Tourenzahlen. Die Vergleichung verschiedener Bauarten in Bezug auf ihre
kommerzielle Brauchbarkeit kann aber nicht von der Tourenzahl, sondern nur von der
Zugsgeschwindigkeit ausgehen, welche für einen und denselben Zug ein für allemal die
gleiche ist, ohne Rücksicht auf die Art der vorgespannten Maschine, sobald der
Zug ein fahrplanmässiger geworden ist und damit kommerziellen Zwecken dient. Dass
dann die Wahl der Maschine im allgemeinen nicht mehr beliebig, sondern eben diesen
Wertziffern angepasst ist und daher in engen Grenzen sich bewegt, ist klar. – Im
einzelnen ist zu bemerken:
1. Die Lokomotive der Ostbahn aus dem Jahre 1898 ist mit
der bekannten Oelfeuerung, System Holden, ausgestattet
(ausführliche Beschreibung derselben in der Zeitschrift des
Vereins deutscher Ingenieure, 1. Februar 1902), deren Behälter zwischen die
Seiten des hufeisenförmigen Wasserbehälters in den dreiachsigen Tender eingesetzt
ist. Der durchgehende Hauptrahmen der Triebachse und hinteren Laufachse liegt
aussen, der Rahmen des Drehgestells innen, die geneigten Cylinder ebenfalls innen,
die durch die Stephenson-Steuerung angetriebenen Kolbenschieber unter den Cylindern.
Die Westinghouse-Bremse wirkt auf Triebachse, Laufachse und alle drei Tenderachsen,
und zwar einseitig, auf erstere von vornen, auf letztere von hinten. Der Tender
besitzt Wasserschöpfer.
Textabbildung Bd. 317, S. 543
Fig. 31. Great Northern, England.
Die Leistungen der Ostbahn sind keine grossartigen im Schnellbetrieb, nur die
Pünktlichkeit ist sprichwörtlich, was ohne weiteres zu erklären ist: Die Maschinen
fahren infolge ihrer grossen Adhäsion und guten Kraftziffer flott an und versagen
infolge der Oelfeuerung unter keinen Umständen, soweit die Abgabe von Zugkraft in
Betracht kommt, während andererseits die Leistung und der Geschwindigkeitswert nicht
hoch sind, so dass die Geschwindigkeit auf freier Strecke keine besonders hohen
Werte zu erreichen im stände ist. Dafür folgende Proben:
Schnellste Fahrt der Ostbahn:
Gainsboro-Lincoln 24,9 km in 18 Minuten: 83 km/Std.
Längste und schnellste Weitfahrt (ohne Halt):
London-North Walsham 209 km in 2 Std. 38 Min.: 78,8 km/Std.
2. Die Lokomotive der Westbahn aus dem Jahre 1901 ist in
der hier gezeigten Bauart noch nicht normal geworden, sondern erst durch Umbau
einiger älterer Maschinen ist die letztere ins Leben gerufen worden; der Umbau ist
aber sehr gelungen und offenbar als Vorteil gegenüber der früheren Form
aufzufassen. Während das Untergestell nicht verändert worden ist, ist der
hochliegende domlose Kessel mit seiner Belpaire'schen
Feuerbüchse und verlängerten Rauchkammer neu für die ¼ gekuppelte Gattung.
Textabbildung Bd. 317, S. 544
Fig. 32. Great Northern, England.
Hauptrahmen und Rahmen des Drehgestells liegen aussen, ausserdem ist zur vierfachen
Lagerung der Kurbelachse noch ein durchgehender innerer Rahmen vorhanden. Die
geneigten Cylinder liegen innen. Der dreiachsige, flache, leichte Tender besitzt
ebenfalls Wasserschöpfer; die automatische Vakuumbremse wirkt einseitig auf die
gleiche Art wie bei dem vorigen Beispiel.
Textabbildung Bd. 317, S. 544
Fig. 33.
Ueber die Leistungen dieser Gattung im täglichen Betrieb sei erwähnt: Die
Geschwindigkeit steigt auf günstigen Strecken bis 128 km/Std., beträgt
mit Zügen von 130 bis 180 t (5 bis 7 D-Wagen) auf
freier Strecke 90 bis 100 km/Std. in der Horizontalen, und bis 85 km/Std. auf
Steigungen bis 1/100; der Anfahrweg ist gewöhnlich 8 bis 9 km. Ferner ist die
schnellste Fahrt der Westbahn:
London-Birmingham 208 km in 2 Std. 23 Min.: 87,3 km/Std.,
längste Weitfahrt:
London-Exeter 312 km in 3 Std. 38 Min.: 85,8 km/Std., welche
beide von solchen Maschinen täglich mehrmals gemacht werden. Einzelne Züge der
Westbahn sind durch dieselben berühmt geworden, so der „fliegende Holländer“,
welcher schon eine lange Reihe von Jahren unter diesem Namen besteht. Als weiterer
Beleg möge noch das mit dem Längenprofil der Strecke verbundene
Geschwindigkeitsdiagramm zweier Fahrten von London über Bristol nach Exeter hier
folgen (entnommen aus Vinter, G. W. R. Expresses,
Fig. 33).
Zu erwähnen ist noch, dass die Westbahn bis 1892 Breitspur von 2134 mm (7 engl. Fuss)
besass und auf dieser seit 1846 sich im Schnellfahren Verdienste erworben hatte. Die
besten breitspurigen Maschinen waren ebenfalls ¼ gekuppelt, jedoch waren die beiden
vorderen Laufachsen nicht zu einem Drehgestell vereinigt, sondern steif im
Hauptrahmen gelagert; schon seit etwa 1854 war die Geschwindigkeit von 128 km/Std. ab und zu
erreicht worden. Die bekannteste Maschine der alten Klasse war der „Lord of the
Isles“ mit Triebrädern von 2,48 m Durchmesser, der zuletzt noch im Jahre
1890 auf der Ausstellung von Edinburgh glänzen konnte, nach 40jähriger
Dienstzeit.
(Fortsetzung folgt.)