Titel: | Bedeutung mathematischer Theorien für patentamtliche Entscheidungen. |
Autor: | Rudolf Mewes |
Fundstelle: | Band 316, Jahrgang 1901, S. 625 |
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Bedeutung mathematischer Theorien für
patentamtliche Entscheidungen.
Von Rudolf Mewes, Ingenieur und
Physiker.
Bedeutung mathematischer Theorien für patentamtliche
Entscheidungen.
Die patentrechtliche Bedeutung mathematischer Theorien beruht auf § 1 Satz 1 des
deutschen Patentgesetzes: „Patente werden erteilt für neue Erfindungen, welche eine gewerbliche
Verwertung gestatten“ und auf § 2 Satz 1: „Eine Erfindung gilt
nicht als neu, wenn sie zur Zeit der auf Grund
dieses Gesetzes erfolgten Anmeldung in öffentlichen Druckschriften aus den
letzten hundert Jahren bereits derart beschrieben ist, dass danach die Benutzung durch andere Sachverständige möglich er
scheint.“
Nach den beiden hier angeführten Paragraphen des deutschen Patentgesetzes können
Theorien, sofern auf ihnen eine Erfindung sich stützt, für deren Patentfähigkeit
insofern von Bedeutung werden, als sie deren Neuheit oder deren gewerbliche
Ausführbarkeit (Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Erfindung) betreffen.
Jede Erfindung besteht aus einem Erfindungsgedanken und den Mitteln zur gewerblichen
Verwertbarkeit des Erfindungsgedankens. Der neue Erfindungsgedanke allein genügt
noch nicht zur Begründung der Patentfähigkeit einer Erfindung, sondern es muss noch
die Möglichkeit einer gewerblichen Verwertung hinzukommen.
Nun ist mit der Aufstellung einer Theorie technischer, physikalischer, chemischer
oder sonstiger rein mechanischer Probleme in der Regel ein neuer Erfindungsgedanke
von allumfassender Tragweite oder auch eine ganze Reihe von dem allgemeinen
Grundgedanken sich unterordnenden Erfindungsgedanken gegeben.
Findet der Begründer einer wissenschaftlichen Theorie gleichzeitig auch die Mittel,
die von ihm aufgestellte Theoriedurch ein Arbeitsverfahren oder eine
Vorrichtung gewerblich zu verwerten, so hat er nach § 1 Satz 1 des Patentgesetzes
eine patentfähige Erfindung gemacht, selbst wenn die praktische Ausführung des neuen
Erfindungsgedankens für jeden Fachmann nach aufgestellter Theorie ohne weiteres
gegeben sein würde.
Anders liegt es dagegen, wenn nicht der Begründer der Theorie, sondern ein anderer
eine auf der bereits veröffentlichten Theorie sich gründende Erfindung anmeldet.
In diesem Falle ist bei der Prüfung nach der Patentfähigkeit der Erfindung zu
untersuchen, ob in der die Theorie enthaltenden öffentlichen Druckschrift der
Erfindungsgegenstand bereits derart beschrieben ist, dass danach die Benutzung durch
andere Sachverständige möglich erscheint. Dies Moment kann vom Patentamte, vom
Einsprecher gegen Patentanmeldungen oder auch vom Nichtigkeitskläger gegen bereits
erteilte Patente ins Feld geführt werden.
Nach den Entscheidungen des Reichsgerichtes in Patentprozessen ist die Streitfrage
der Patentfähigkeit der Anwendung mathematischer Gleichungen, durch welche sich fast
durchweg Theorien gewisser Naturvorgänge darstellen lassen, den herrschenden
Ansichten entsprechend mehrfach dahin erledigt worden, dass die allgemeine Anwendung
sogenannter prinzipieller Gleichungen nicht patentfähig, dass dagegen die spezielle
Anwendung mathematischer Gleichungen patentfähig ist.
In der Anwendung dieser Grundsätze können natürlich Zweifel darüber entstehen, bei
welchem Grade der Spezialisierung allgemeiner Gleichungen die Patentfähigkeit beginnt. In
dieser Hinsicht hat das Reichsgericht in dem berühmten Patentprozess gegen das Schlick'sche Patent Nr. 80974, betreffend
„Mehrcylindrige Kraftmaschine, mit durch die Betriebsteile infolge der
Cylinder- und Kurbelanordnung thunlichst ausgeglichenen Massenwirkungen“,
eine folgenschwere Entscheidung gefällt; denn das Reichsgericht hat, obwohl das
Gesetz in § 2 Satz 1 von dem Veröffentlicher selbst gar nicht spricht, sondern nur
von der Veröffentlichung und von deren Benutzung durch Sachverständige, in dem
genannten Falle die in Frage kommende theoretische Abhandlung Taylor's nicht als Vorveröffentlichung anerkannt, weil
Taylor die in sich ausgeglichene Maschine für
praktisch unausführbar gehalten habe. Das Reichsgericht hat also, wie Professor J. Lüders hierzu in seiner Broschüre Die Verteidigung des Patentes Nr. 80974 (Aachen, C. Mayer's Verlag, 1899) bemerkt, nicht die Ansicht,
die der Sachverständige sich aus dem, was Taylor
geschrieben hat, bilden konnte, sondern des letzteren persönliche Meinung über den
Wert seiner Entdeckung als massgebend angesehen. Hiergegen führt Lüders folgende Stellen aus Kohler (Forschungen aus dem Patentrecht, S. 81) an:
„Die Veröffentlichung muss die Darstellung einer technischen Idee enthalten;
dieses ist der Fall, auch wenn der Schriftsteller sich der
Erfinderrechtsqualität derselben nicht bewusst ist: so, wenn er glaubte, dass
dieselbe technisch nicht verwertbar sei, so, wenn er meinte, dass seine
Kombination bereits bekannt sei ... Daher kann die Veröffentlichung die Neuheit
ausschliessen, selbst wenn das veröffentlichte technische Verfahren keine
Erfindung war, weil das geistige Element der Erfindung fehlte, so insbesondere
im Falle des Error: der Techniker beschreibt ein Verfahren als das Mittel zur
Herstellung des Stoffes a, während es gar nicht den
Stoff a, sondern den Stoff b erzeugt, während a (zufällig) ...
miterzeugt wurde.“
„Daher kann eine Produktionsweise auch dann publik werden, wenn sie jemand nur
als Hypothese darstellt, ohne dass er sich von der Wirklichkeit überzeugt hat
... Noch weniger kann es natürlich in Betracht kommen, wenn der Erfinder bei der
Publikation Zweifel und Bedenken äussert..., auch das ist einflusslos, dass der
Erfinder seine Idee nicht mit einemmal ... publiziert hat.“
Die Juristen des Reichsgerichts stehen somit in offenbarem Widerspruch mit dem
Wortlaut des § 2 Satz 1 des Patentgesetzes und der Auslegung desselben durch unseren
bedeutendsten Lehrer des Patentrechtes.
Das Reichsgericht sprach dem Patentamte gegenüber aus: „Selbst wenn dies richtig
ist und die Anwendung eines ausbalanzierten Gestänges nur deshalb unterblieben
wäre, weil man dieselbe, in dem Glauben andere Wirkungen der Maschine in den
Vordergrund stellen zu müssen, für unausführbar hielt, so würde ein
Erfindungsgedanke darin liegen, dass die Ausführbarkeit dieser Ausgleichung
erkannt und praktisch dargethan wurde,“ während es in Bezug auf Taylor's Schrift äusserte: „Hieraus geht hervor,
dass Taylor ... es doch für unausführbar gehalten
hat, diese Erkenntnis in die Praxis zu übertragen, weil nach seiner Meinung
andere Rücksichten... entgegenstanden u.s.w.“
Mit Recht bemerkt Professor Lüders a. a. O. hierzu,
„dass die Nichtausführung eines gemachten Vorschlages in der Regel nur
dadurch veranlasst wird, dass man glaubt, andere ‚Rücksichten‘, mögen sie nun
eingebildet oder wirklich vorhanden sein, ‚in den Vordergrund stellen zu
müssen‘, als diejenigen, auf denen der Vorschlag beruht. Mithin kann fortan fast
jeder nicht ausgeführte Vorschlag aufs neue der Gegenstand eines patentfähigen
Erfindungsgedankens werden. Das Vorhandensein, ja die allgemeine Kenntnis eines
Vorschlags soll nicht mehr berücksichtigt werden und derjenige soll als
patentberechtigter Erfinder behandelt werden, welcher den Vorschlag zuerst als
ausführbar erkannte und mit Erfolg ausführte. Die
eingetretene Benutzung seines Vorschlages legalisiert sozusagen sein Patent und
macht ihn zum wirklichen Erfinder. Sie gibt dem Richter den Entscheidungsgrund
an die Hand, ohne dass dieser die Veranstaltungen und Verhältnisse, auf denen
der erlangte Erfolg beruht, zu untersuchen braucht. Nur der Grad des erlangten
Erfolges wäre allenfalls darauf hin zu untersuchen, ob er die Annahme des
Vorhandenseinseiner Erfindung rechtfertigt. Unter solchen Umständen fällt
die Frage freilich fort, ob ein Sachverständiger den Gegenstand einer
Veröffentlichung hätte ausführen können.“
Die Durchführung einer Nichtigkeitsklage wegen mangelnder Neuheit dürfte danach bei
folgerichtiger Handhabung der neuen Grundsätze des Reichsgerichtes ungemein
schwierig werden, zumal wenn man bedenkt, dass die Schlick'sche Anmeldung nur in dem Gedanken bestand, ausgeglichene
Maschinen unter ausschliesslicher Verwendung von Cylindergestängen auszuführen, und
mit der Fassung dieses Gedankens die Erfindung perfekt war, da ja die Lehre von der
Ausgleichung der Massenwirkungen von Dampfmaschinen oder mathematisch ausgedrückt:
von der Ausgleichung räumlicher kurbelbewegter Massensysteme schon fünfzig Jahre
früher bekannt war, die allgemeinen Gleichungen des Gleichgewichtes von
Kräftesystemen auf den Spezialfall des Gleichgewichtes von Massenwirkungen angewandt
und ausgeglichene Kraftmaschinen wirklich gebaut worden waren, insbesondere aber
kurz vorher auch noch durch die Taylor'sche Schrift der
fragliche Spezialfall theoretisch vollständig gelöst worden war. Zum Schluss dieser
patentrechtlichen Ausführungen sei noch kurz bemerkt, dass der Wert des Schlick'schen Patentes nach Angabe der Besitzerin (Aktiengesellschaft Vulkan in Stettin) schon im Sommer
1898 einen Wert von 60 Millionen M. erreicht hatte.
Während in den Nichtigkeitsprozessen die Theorien in der Regel nur wegen des
Nachweises der mangelnden Neuheit ins Feld geführt werden, so ist auch der zweite
Fall nicht ausgeschlossen, dass auf Grund von allseitig anerkannten und für richtig
gehaltenen Theorien die gewerbliche Verwertung oder mit anderen Worten die
Ausführungsmöglichkeit bestritten wird, wie dies beispielsweise bei der Pictet'schen Patentanmeldung, betreffend Kühlverfahren
und Kühlmaschine mittels Pictet'scher Flüssigkeit
(Gemisch aus schwefliger Säure und Kohlensäure), geschehen ist. Gegen die
Patentfähigkeit der Pictet'schen Erfindung wurde der
zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie ins Feld geführt und die
Unmöglichkeit derselben behauptet, da sie gegen den zweiten Hauptsatz und somit
gegen ein allgemeines Naturgesetz verstosse. Demgegenüber betonte Pictet, dass der zweite Hauptsatz der mechanischen
Wärmetheorie der sogen. Clausius'sche Satz ein
allgemeines Grundgesetz überhaupt nicht darstelle, und bewies, da die
Wärmetheoretiker nicht zu überzeugen waren, die Richtigkeit seines Verfahrens durch
Versuche und erhielt schliesslich das Patent.
Noch eigenartiger liegt die Sache bei dem Linde'schen
und dem Mix'schen Luftverflüssigungsverfahren. Beide
wollen flüssige Luft im Gegenstrom durch Aufwand von Kompressionsarbeit und
nachheriger Abkühlung durch Arbeitsleistung der Pressluft, nämlich nach Linde durch innere, nach Mix durch äussere Arbeitsleistung erzeugen.
Die theoretische Grundlage des Linde'schen Verfahrens,
die Joule-Thomson'sche Formel, ist anfechtbar und, da
die innere Arbeit der Luft nach dem Beweise von Dr. Th.
Gross gleich Null ist, schon aus diesem Grunde nicht haltbar. Gleichwohl
aber wurde das darauf begründete Linde'sche
Luftverflüssigungsverfahren anstandslos vom Patentamte geschützt, da offenbar an der
Richtigkeit der Theorie keine Zweifel seitens der prüfenden Mitglieder gehegt wurden
und letztere sich ohne selbständige Prüfung auf die Autorität von Joule und Thomson
verliessen.
Bei dem Mix'schen Kühlverfahren, das theoretisch
vollkommen klar und ganz elementar auf Grund des ersten Hauptsatzes der mechanischen
Wärmetheorie vom Anmelder schon in der ersten Eingabe begründet wurde, verstanden
vier Jahre lang die prüfenden Mitglieder das Wesen der Erfindung nicht und erklärten
ein derartiges Kühlverfahren für unmöglich bezw. zur Herstellung flüssiger oder
fester Luft für aussichtslos, bis ich in meiner Arbeit darüber die Richtigkeit
dieses Kühlverfahrens an der Hand der thermodynamischen Grundformeln in üblicher
Weise streng nachgewiesen hatte. Erst dann wurde von der Anmeldeabteilung Auslegung
der Mix'schen Patentanmeldung beschlossen.
Von noch höherer Bedeutung ist jedoch die Theorie bei den Verbrennungskraft- und bei
den Dampfmaschinen, insbesondere sofern sich die Patentanmeldungen auf neue
Arbeitsverfahren beziehen, da in diesen Fällen die Grundformeln der Thermodynamik in
Frage kommen und
infolge der gewaltigen Autorität von Clausius als
massgebender Grundsatz der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie als
richtig und entscheidend angesehen wird.
Wenn dieser Satz auch theoretisch für den besonderen Fall, dass die Nutzarbeit gleich
Null ist, vollkommen zutrifft, so stellen sich doch bei seiner Anwendung auf die
Wärmekraftmaschinen, wie Clausius selbst für den Fall
der theoretisch vollkommenen Dampfmaschine in seiner heute noch mustergültigen
Abhandlung „Ueber die Anwendung der mechanischen Wärmetheorie auf die
Dampfmaschine“ (Pogg. Ann., März- und Aprilheft
1856, Bd. XCVII, S. 441 und 513) klar bewiesen hat, infolge des Zwanges, den
Gegendruck der Atmosphäre berücksichtigen und in die Grundformeln einführen zu
müssen, solche Abweichungen und Unzuträglichkeiten ein, dass es zu verwundern ist,
dass die Patentprozesse nicht schon seit Jahren zur endgültigen Klarstellung dieser
bisher nicht genügend gewürdigten Schwierigkeit geführt haben. Der Grund dürfte
darin liegen, dass der praktische Maschinenbauer sich wenig um die Thermodynamik
kümmert und sich an seine durch die Praxis bestätigten Faustregeln hält.
Wagt es dagegen ein Erfinder einmal, von den üblichen Bahnen der Praxis
abzuweichen und, wie dies Diesel gethan hat, ein neues
Arbeitsverfahren wärmetheoretisch zu analysieren und mathematisch durch Formeln zu
kennzeichnen, so ergeben sich, da der Gegendruck der Atmosphäre, wie dies die von
Diesel 1893 veröffentlichte Abhandlung über die
Theorie seiner Maschine beweist, nicht gehörig berücksichtigt wird, Widersprüche,
welche erst durch die Ergebnisse der Praxis beseitigt werden.
Die Theorien haben nach vorstehenden Ausführungen in patentrechtlicher Hinsicht eine
ausserordentliche Bedeutung. Im Interesse der Erfinder sowohl als auch in demjenigen
der Industrie muss daher bei der Prüfung nicht nur auf eine grosse praktische
Erfahrung und technische Ausbildung, sondern auch auf ein hohes Mass theoretischen
Wissens Wert gelegt werden, damit die gerade herrschenden Theorien selbständig
geprüft und in zweifelhaften Fällen die Gründe für und wider wissenschaftlich
abgewägt und theoretische Fragen entschieden werden können. Diese Forderung ist in
gleicher Weise an die Vorprüfer wie auch an die Patentanwälte zu stellen.