Titel: | Allgemeine Fragen der Technik. |
Autor: | P. K. von Engelmeyer |
Fundstelle: | Band 315, Jahrgang 1900, S. 294 |
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Allgemeine Fragen der Technik.
Von Ingenieur P. K. von Engelmeyer, Moskau.
Allgemeine Fragen der Technik.
Zur philosophischen Begründung der Technik.
Redet man von Erfindung, so spricht man von der Technik und umgekehrt. Alles Neue in der Technik ist bei seinem ersten Erscheinen
Erfindung. Die Summe sämtlicher Erfindungen, das Integral derselben, ist die Technik. Darum ist die Erfindung das Differential
der Technik. Der Satz hat sogar eine doppelte Bedeutung, die durch Analogie leicht fassbar wird. Der einzelne Schritt ist
ebenfalls das Differential des Gehens, und zwar in doppelter Hinsicht: einmal weil das Gehen, als Thätigkeit, nur eine Wiederholung
ist von jenen elementaren Bewegungen, die einen Schritt ausmachen, dann wieder ist der zurückgelegte Weg gleich der Summe
der Schritte.
Noch eine Analogie: das Kriegswesen. Schlacht verhält sich zu Krieg, wie Erfindung zu Technik, und wieder in doppeltem Sinne:
als Mittel (Methode) und als Zweck
(Resultat). Die einzelnen Verfahren des Krieges finden sich in der Schlacht und können hier erforscht werden, und
der Zweck eines Krieges, das Resultat desselben, der neu eroberte Landstrich, ist die Summe der einzelnen Aneignungen, die
jede Schlacht hinterlassen.
Ebenso ist Erfindung in doppeltem Sinne Differential der Technik: einmal als Mittel
(Methode), d. i. wenn man den psycho-physiologischen Mechanismus betrachtet; dann wieder als Zweck (Resultat), d.
i. wenn man sein Augenmerk richtet auf das bis heute Erworbene, auf den positiven Bestand der technischen Disziplinen und
auf das ganze System der materiellen Kultur.
Die kulturelle Bedeutung der Technik, das ist der Weg, der zu einer philosophischen Begründung der Technik führt. Ein Kulturforscher
kann sich eventuell gar verschiedene Ziele aufstecken, er wird dennoch dieser Frage nicht mehr, ausweichen können. Ein schlagender
Beweis für die Richtigkeit dieses Satzes ist das Werk von
Lester Word:
„Psychic factors of Civilisation“, 1896. Das Thema scheint von der Technik so fern wie möglich entlegen zu sein. So glaubt einer, der über die Wirkungsgrenzen
der Technik nie nachgedacht. Und wir Techniker sind immer die ersten daran. Wir können uns aber trösten: Goethe sagt auch: „Ich habe nie an Denken gedacht“ und war dabei doch kein übler Denker. Die Ansichten Lester Word's müssen wir uns möglichst vollständig vorführen.
Word fasst den ganzen Gang der Entwickelung der organischen Welt seit Ursprung derselben auf Erden ins Auge. Zwei Grundprinzipien
sieht er hier walten: das biologische und das psychologische. Ersteres waltet allein zu jenen Zeiten, wo nur noch die Pflanze
das Lebende ist. Nach Erscheinen des Tieres und später des Menschen geeilt sich zu diesem noch das psychologische Prinzip,
welches sich zwar aus dem biologischen herausbildet, aber in seiner vollen Entwickelung von demselben grundsätzlich verschieden
ist, ja sogar teilweise in Gegensatz dazu steht. Die Bethätigung alles Lebendigen wird verursacht durch Streben nach dem Vorteil,
durch Neigung, Hang, Bedürfnis, und durch den Willen, dem Word die Schopenhauer'sche Deutung gibt. Die Bethätigung des Willens ist ebendoppelt und geschieht nach den beiden Prinzipien: dem biologischen und dem psychologischen; die biologische Bethätigung geschieht
nach der geraden Linie. Wie das Eisen vom Magneten geradlinig angezogen wird, geschieht auch die Befriedigung der Bedürfnisse
nach dem biologischen Prinzip. Wäre diese direkte und unmittelbare Befriedigung in jedem Einzelfalle ausreichend, so bliebe
es auch dabei. Aber die Natur stellt der Befriedigung Hindernisse, die nur auf einem Umweg umgangen werden können. Der Umweg liegt aber nicht offen, wie der direkte Weg (wenn eben nur ein solcher immer vorhanden
wäre). Der Umweg muss somit erschaut werden. Hierzu sind zwei Vorbedingungen erforderlich: es muss eine Fähigkeit entstanden
sein, die es ermöglicht, Erfahrungen zu sammeln („Mass der Intelligenz“ nach
Mach), und ferner eine Fähigkeit, zweckdienliche Umwege zu erschauen, wo kein direkter Weg vorhanden. Beide Fähigkeiten betrachtet
Word in einem und bezeichnet sie beide zusammen unter dem Namen „Intuition“, indem er mit Nachdruck darauf hinweist, dass Intuition und Deduktion nicht verwechselt werden dürfen.
Die Intuition macht den Intellekt aus. Sie selbst ist noch insofern Sammelname, als sie in eine Anzahl Varietäten zerfällt.
Zu ihr gehören nämlich: List, Betrug, Schlauheit, Fassungskraft, Scharfsinn, Politik (?), Demagogie (?), Erfindungskraft
(für Erfindung in der Technik und Entdeckung in der Naturlehre), Schöpfungskraft
(für künstlerische Werke) und spekulative Kraft (für philosophische Abstraktion). Die Intuition hat ferner verschiedene
Grade. Diese sind: intuitive Wahrnehmung, Verstand, Urteil (gesunder Menschenverstand). Alsdann wird noch unterschieden die
aktive, männliche Intuition, welche das Neue einführt, und die passive, weibliche, die das Bestehende schützt und erhält.
Uns interessiert am meisten die Erfindungskraft. Sie gibt das Neue in der Technik und in der Wissenschaft und ist gerichtet
auf die „unbelebte Natur“, sagt Word, und vergisst hierbei Zootechnik, Zoologie u.s.w. Besser wäre zu sagen: auf die aussermenschliche Natur. Vor allem hebt Word den Unterschied hervor, der zwischen natürlichen Werkzeugen der Tiere und künstlichen Werkzeugen des Menschen besteht. Dieser
Unterschied könnte dazu dienen, in der Vorwelt den Zeitpunkt aufzuweisen, wann die Erfindungskraft auf Erden ihren Anfang
genommen. Der erste Schritt in dieser Richtung ist gekennzeichnet durch die Verwendung zur Beistandleistung der eigenen Arbeit,
eines Gegenstandes, der nicht Teil des Organismus ist. Die Kunst des Nestbaues bei Vögeln steht, für Word, auf der Grenze zwischen dem durch Auslese und Vererbung herangebildeten Instinkte und der Intuition.
Den Unterschied zwischen Instinkt und Intuition deute ich, für meine Person, folgendermassen: Instinkt im Sinne des Nestbaues
u. dgl. nimmt beim Tiere genau denselben Platz ein, wie Gewerbe beim Menschen. Mögen die einzelnen, in beiden verwendeten
Kunstgriffe noch so wunderbar erscheinen, sie sind pure Erzeugnisse der Anpassung, der Auslese und der Vererbung. Zur letzteren rechne ich auch den Unterricht. Ganz ebenso wunderbar sind die auf demselben
Wege herangebildeten Organe des pflanzlichen oder tierischen Organismus. Organ einerseits und Handwerkszeug andererseits (Urwaffe
u.s.w.) haben sich säkular gebildet und modifizieren sich immerfort, als Ergebnis des steten faktischen Gebrauchs. Die jeweiligen
Abweichungen sind minimal. Konservatismus (Routine) ist die Grundeigenschaft des tierischen Instinktes und des menschlichen
Gewerbes zugleich. Die Intuition dagegen ist gekennzeichnet durch die Abweichung, durch den Neophorismus. Instinkt ist wesentlich
konservativ, Intuition wesentlich neophor. Nun weise ich der gewerbsmässigen Routine, somit auch dem Instinkt, den Platz im
dritten Akte meines Dreiaktes an (D. p. J. 1899 312 130). Somit glaube ich zu der Aeusserung berechtigt zu sein, dass das tierische Schaffen sich nicht über den dritten Akt
erhebt, und sich darin von dem menschlichen Schaffen unterscheidet. Dass das tierische Schaffen somit auf die Stufe des menschlichen
Gewerbes zu stehen kommt, und beides als Funktion des Instinktes erklärt wird, erscheint mir als ein Schritt vorwärts auf
dem immer noch so wenig betretenen Bergpfade der Theorie des Schaffens.
Wir kehren zu Word zurück. Menschliche Urwerkzeuge und Urwaffen sind Erzeugnisse der Intuition. Nach und nach hat sie unsere Wirkungssphäre
auch über einzelne Naturkräfte erweitert. Word bleibt hier an den ganz allgemein bekannten Kräften stehen, drückt sich nur ganz allgemein aus und schliesst das Kapitel
mit den Worten: „Nach Ausscheidung einiger indirekt wirkender Erziehungskräfte (?) ist man vollkommen berechtigt zu sagen, dass die Zivilisation
in der Ausnutzung der Naturstoffe und -kräfte besteht; das einzige Vermögen aber, welches diese Ausnutzung vollbringt, ist
die menschliche Erfindungskraft.“ Im Kapitel über „Psychologie der Erfindungskraft“ wird als Grundwesen der Intuition in all ihren Abarten erklärt „die Wahrnehmung von Beziehungen“. In jener Abart, welche Erfindungskraft genannt wird, sind es „meist Beziehungen des Widerstandes, der Richtung, Geschwindigkeit der Bewegung und der Entfernung“. Indem die Erfindungskraft auf die äussere Natur gerichtet ist, wird ihr ein uneigennütziger Charakter zugeschrieben und
als Beleg dieses Charakters der Umstand gedeutet, dass der Erfinder nur selten die Früchte seiner Erfindung erntet, welche
meist gewandten Geschäftsleuten zufallen. In der Oekonomie der Gesellschaft sind zwar Erfinder wie Geschäftsleute gleich nützlich,
wir erkennen jedoch ein Höheres in der Begabung des Erfinders, obwohl nach dem biologischen Prinzip der Erfinder untergehen
und der Geschäftsmann bestehen muss, und da sehen wir zugleich „den Unterschied zwischen einer biologischen Auffassung der Gesellschaft und der Philosophie des Meliorismus, oder zwischen
der biologischen und der psychologischen Soziologie“.
Das nächste Kapitel bringt „das Genie der Erfindung“, psychologisch die höchste Stufe dieser Anlage, welche sich dadurch auszeichnet, dass der Mensch einen Genuss findet in der
Ausübung selber, der intellektuellen Thätigkeit. Dieses Genie
„führte den Menschen zu den Künsten“. Rohmaterialien werden von den künstlichen verdrängt. Die zur Zeit herrschende biologische Soziologie übersieht diesen Umstand
und kommt zu ungerechtfertigten Schlüssen. Sie übersieht ferner, dass jedes künstliche Gebilde ein Eingreifen in die freie
Verkettung der Naturgesetze ist, dass jeder künstliche Gegenstand derart ist, wie ihn die Natur niemals gemacht hätte, dass
endlich der ganze Prozess darin besteht, alles künstlich herzustellen, weil dabei immer neue und neue nützliche Anwendungen
erzielt werden.
Mit dem Erfindungsgeist ausgerüstet, übt der Mensch eine mächtige Einwirkung auf seine Umgebung. Er modifiziert sie gemäss
seiner Organisation und entzieht sich der Notwendigkeit der eigenen Anpassung seines Organismus an die Umgebung. Word betont nicht besonders diesen Satz, spricht ihn nur so flüchtig aus und kehrt nicht wieder zu dieser Frage zurück. Mir kommt
aber vor, dieser Satz enthalte einen sehr tiefen Gedanken, den ich am geeigneten Ort ausführlich zu entwickeln gedenke, hier
aber nur dessen Tragweite kurz hervorheben will. Zu welcher biologischen Schule man sich auch neigen mag, man deutet allgemeindie Evolution des Lebenden als Anpassung des Organischen an das Anorganische. H. Spencer fasst überhaupt das Leben, ob allgemein, ob in seinen Einzelerscheinungen, nur lediglich auf als „Anpassung der inneren Verhältnisse (des Organischen) an die äusseren“. Das Anorganische ist hier gegeben, es ist die unabhängige Variable. Das Organische ist nachgeformt, es ist die Funktion
dieser Variablen. Ich finde aber, dass diese Ansicht die zweite Seite des biologischen Ueberganges übersieht: jeder Organismus
übt irgend eine Rückwirkung auf die Natur aus. Am stärksten und tiefgreifendsten ist die Wirkung des mit der Technik ausgerüsteten
Menschen, der die Natur rings um sich her förmlich umändert. Aber auch die Pflanze mit ihren Wurzeln, die Mikrobe mit ihrer
Ausscheidung lässt die Natur nicht unberührt. Fasst man diese zweite Seite des Lebens ins Auge, so gelangt man zu einem vielseitigeren
Verständnis des Lebens, indem man neben der biologischen noch eine technologische Seite des allgemeinen Vorganges entdeckt,
welcher Leben heisst. Word geht aber nicht so weit.
Bald kommt er auf den allgemein beliebten Gegensatz zwischen Erfindung und Entdeckung und betont dem gegenüber die Identität
beider, die er für Ergebnis einer und derselben Anlage, des Erfindungsgeistes, hält, und in beiden wieder eine und dieselbe
Eigenschaft hervorhebt, „die Wahrnehmung der Beziehungen zwischen physischen Erscheinungen, der Eigenschaften der Körper und die Natur der mechanischen
Bewegungen“.
Unter Hinweis auf die etwas enge Begrenzung der ins Spiel tretenden Kräfte können wir weiter gehen. Dass der Geist der Erfindung
mit dem der Entdeckung so in eins gehalten wird, ist eigentümlich und darf natürlich nicht zu einer Verwechselung beider führen;
unter dieser Voraussetzung ist sie willkommen. Eben der Umstand, dass das Schaffen auf den Gebieten der Wissenschaft und der
Kunst bis jetzt meistens für edel und hoch, und das technische Erfinden für trivial und flach gehalten wird, mag diese Gliederung
auch aus dem edelsten Don Quixote'schen Bestreben herrühren, die Wissenschaft und die Kunst zu verherrlichen, dessenungeachtet
hat dieser unwissenschaftliche Sentimentalismus nachweisbar die meisten Psychologen, Philosophen und Aesthetiker bis dato
verhindert, den inneren Vorgang des Schaffens zu ergründen, auch in jenen Zweigen, denen Hochdieselben mit dem allzermalmenden
und allzerschneidenden Arsenal ihrer Kritik zu Leibe gingen, so dass die wenigen vereinzelten ans Licht geförderten Perlen
in der Unmasse bedruckten Papiers bei weitem noch schwieriger herauszufischen sind, als direkt aus dem Ozean des faktischen,
bunten und stürmischen Lebens. Man muss sich nur hüten, die Begriffe
„hoch“ und „flach“ dort anzuwenden, wo kein „oben“ und
„unten“ vorhanden ist.
Die Frage, ob der Erfindungsgeist im Menschen entwickelt werden kann, beantwortet Word mit einem „ja“ im Sinne der Verbreitung nötiger Kenntnisse, deren Mangel nur zu oft die zahlreichen wenig erfahrenen Erfinder auf Irrwege
führen. Word weist aber noch auf den Umstand hin, dass der gesellschaftliche Erfolg neuer Erfindungen nicht allein durch den Nutzen derselben
bedingt ist, sondern auch durch den jeweiligen Zustand des Publikums, das zu dem Gebrauch einer Erfindung mehr oder weniger
gut vorbereitet ist. Dem abzuhelfen ist wieder berufen die Verbreitung nützlicher Kenntnisse im Publikum. Diesen trefflichen
Ausführungen müssen wir die volle Anerkennung zollen.
Wie gesagt, nennt Word
„Erfindergeist“ und „Genius der Erfindung“ diejenige intuitive Begabung, welche auf sachliche Verhältnisse gerichtet ist. Ein anderer Zweig richtet sich auf menschliche
Verhältnisse, Politik, Demagogie. Zu ihm gehört auch der bereits berührte „Geschäftsgeist“, die spezielle Anlage, die den Geschäftsmann auszeichnen muss. Noch ein anderer Zweig richtet sich auf die ästhetischen Verhältnisse
und bringt die Kunst zum Vorschein. In seiner vollen Entfaltung nennt ihn Word
„Genius der Schöpfung“ und vertritt folgenden Standpunkt. Der Erfindungsgeist, welcher sich in technischer Erfindung und wissenschaftlicher Entdeckung
bethätigt, verrichtet nur die eine Funktion: er erhascht ausserhalb uns bestehende Beziehungen und verwertet sie zu verschiedenen
Zwecken. In ihrem Schaffen sind somit Erfinder und Forscher gebunden durch die äusseren bestehenden Verhältnisse: „Erfindung ist ein Kompromiss zwischen dem Ideal des Erfinders und der rauhen Wirklichkeit.“ Bis hierher reichen die nützlichen Künste. In den schönen Künsten dagegen ist der schöpferische Geist frei von den Fesseln
der Wirklichkeit (?), er verfolgt einzig und allein seine Ideale. Darum haben seine Werke keine unmittelbare Nützlichkeit
mehr.
Noch um eine Stufe höher steht nach Word der
„spekulative Genius“. Zu diesem rechnet er, „was gewöhnlich mit dem Namen Philosophie bezeichnet wird, zum Unterschied von der Wissenschaft“. Von allen abstrakten Beziehungen nimmt besonders die Kausalität, das Prinzip des zureichenden Grundes, den Intellekt in
Anspruch. Sehr früh hat sich der spekulative Genius auch in sein Inneres vertieft und seine eigenen Beziehungen sich klar
zu machen gestrebt. In der Logik und der Mathematik entfernt er sich am meisten von seinen egoistischen Anfängen. Bis hierher
reicht nicht mehr die Selektionswirkung: nur die neuerworbenen Eigenschaften werden vererbt.
Schwierig dünkt es mich, diese Ansicht Word's in seiner Fassung anzunehmen. Er vertritt nämlich den allerdings sehr verbreiteten Standpunkt, nach welchem eine wissenschaftliche
Entdeckung keine Schöpfung darstellt, als ob der Forscher wirklich den Vorhang des Bildes von Saïs entfernt, die wahre Wahrheit
sieht und dieselbe passiv beschreibt. Heutigen Tages hat besonders Mach unwiderleglich bewiesen, dass diese Ansicht durchaus nicht stichhaltig ist, dass die Regeln, Gesetze und Formeln der Wissenschaft
echte Schöpfungen sind, intellektuelle Werkzeuge zum Zwecke einer leichteren Wiedergabe der Erscheinungen in Gedanken. Auf
diesem Standpunkte stehend, wird man erstens in der technischen, der wissenschaftlichen und der künstlerischen Schöpfung einen
und denselben Vorgang anerkennen müssen, und zweitens wieder unmöglich die philosophische Schöpfung so weit von der wissenschaftlichen
entfernen wollen, wie dies Word thut. Wir kehren nun zu diesem wieder zurück.
Der Intellekt, der Inbegriff aller besprochenen Fähigkeiten bezwingt die Natur vermöge der ihm innewohnenden Fähigkeit, dort
einen Umweg zu wählen, wo kein direkter Weg führt. Naturerscheinungen befolgen unabänderliche Gesetze. Hat die Naturkunde
sie ergründet, so entsteht die Kunst der absichtlichen Einleitung der Erscheinungen. Was hier Word Kunst nennt, fassen wir lieber mit dem Worte Technik zusammen. – Die Bethätigung des Intellektes ist somit grundverschieden
von der Natur.
Sehr interessant deutet Word auch den Unterschiedzwischen Wirtschaft der Natur und der des Menschen (oder, wie er sagt, des Intellektes). Er bestreitet auf das Entschiedenste
die Ansicht, als ob die Natur ihre Ziele auf dem sparsamsten Wege erreicht und beweist das Gegenteil, indem er auf die kolossale
Fruchtbarkeit sehr vieler Pflanzen und Tiere deutet und nachdrücklich betont, dass die Natur nicht sparsam, sondern verschwenderisch
handelt. Angesichts dieser Thatsachen, formuliert Word das Wesen der „biologischen Wirtschaft“, oder was mir lieber „Wirtschaft der Natur“ nennen, in folgenden zwei Grundgesetzen:
1. „Alle organische Energie ist auf einen möglichen Nutzen gerichtet.“
2. „Der wirkliche Nutzen wird erreicht durch unbegrenzte Zahl von Anstrebungen.“
Die Bethätigung der Natur beruht auf Unerschöpflichkeit ihrer Mittel. „Die Natur ist zugleich der praktischste und der verschwenderischste Wirt. Praktisch ist sie, insofern sie nichts hervorbringt,
was keinen Nutzen bringt; verschwenderisch, insofern sie keine Auslagen scheut, um den unbedeutendsten Vorteil zu erzielen.“ Ersparung an Kraft, Zeit, überhaupt an Auslagen, strebt erst der mit Intellekt begabte Mensch an, der seine Zeit mit begrenzten Mitteln erreichen muss. „Das Tier wird von der umgebenden Natur modifiziert; der Mensch dagegen modifiziert seine Umgebung.“ Darin besteht der innere und der äussere Unterschied zwischen dem biologischen und dem psychologischen Prinzip der Evolution.
„Ohne sich neue organische Vorrichtungen zu erwerben, dank der künstlichen Herstellung von Werkzeugen, Waffen, Kleider, Wohnungen
u.s.w., dank der Bezähmung der tierischen und pflanzlichen Welt, dank der Fähigkeit, vorwärts und rückwärts zu schauen, in
einem Wort, dank seinem Intellekte, bemächtigte sich der Mensch der ganzen Erde und ist das einzige Tier, dessen Wohnort nicht
begrenzt ist. Und dies alles hat er erreicht in der kurzen Zeit, die seit der Gletscherperiode verflossen, wenngleich die
Anfänge dieser Handlungsweise in die Tertiärperiode verlegt werden müssen.“
Konkurrenz ist das Grundgesetz der biologischen Evolutionskraft. Kooperation ist dasjenige der psychologischen. „Die Aufgabe des Intellektes löst sich auf in dem Kampf gegen das Gesetz der Konkurrenz.“ Religion, Regierung, Gesetz, Ehe, Sitte, mit all den unzähligen Institutionen, die das gesellschaftliche und das industrielle
Leben regeln, sind nur einzelne Formen dieses Kampfes. Aber die Konkurrenz verschärft sich mitunter auch, entwickelt sich
und geht in die „aggressive Konkurrenz“ über, die ein Zeichen unserer Zeit ist.
(Schluss folgt.)