Titel: | Neuheiten in der Explosivstoff-Industrie und Sprengarbeit. |
Autor: | Oscar Guttmann |
Fundstelle: | Band 275, Jahrgang 1890, S. 112 |
Download: | XML |
Neuheiten in der Explosivstoff-Industrie und
Sprengarbeit.
Mit Abbildungen.
Neuheiten in der Explosivstoff-Industrie und
Sprengarbeit.
Seit unserem jüngsten Berichte hat die Frage des rauchschwachen Pulvers eine so schnelle Entwickelung durchgemacht, wie sie
in der Geschichte der Explosivstoffe wohl noch nicht erlebt wurde. Die Tagesblätter
bringen alle Augenblicke eine andere überraschende Meldung, allein sehr häufig
werden verschiedene Pulver in denselben Topf geworfen, und es hält selbst für den
Fachmann manchmal schwer, in dem Gewirre einander überstürzender Nachrichten
richtige Unterscheidung zu treffen. Unter solchen Umständen ist es wohl Pflicht
eines Fachblattes, seine Leser genauer zu orientiren, allein einerseits sind derlei
neue Erfindungen nur für wenige Eingeweihte zugänglich, andererseits sind dem
Referenten selbst Vorbehalte auferlegt, welche eine gründliche Behandlung der Frage
derzeit noch ausschlieſsen. Wir wollen versuchen, dem technischen Publikum ein
allgemeines Bild auf Grund bekannterer Angaben zu bieten.
Es ist noch nicht so lange her, daſs die Magazin- oder Schnellfeuer-Gewehre alle Welt
in Bewegung setzten, ja in gewissem Sinne ist diese Frage noch immer nicht
abgeschlossen. Thatsache bleibt es, daſs nunmehr alle Staaten an die regelmäſsige
Ausrüstung ihrer Truppen mit solchen Gewehren schritten, welche, um dem ohnehin
schwer belasteten Soldaten das Mitnehmen der bedeutend vergröſserten Menge von Munition zu
ermöglichen, in einem etwa um ein Drittel kleineren Kaliber hergestellt werden.
Damit war nun schon von vornherein ein verändertes Pulver nothwendig geworden. Vor
Allem muſste die Patrone trotz ihres kleineren Querschnittes Pulver von solcher
Kraft enthalten, daſs dem Geschosse die gleiche Treffweite gesichert blieb. Sodann
muſste das Geschoſs eine mehr geradlinige Flugbahn erhalten, weil dem Manne nur
wenig Zeit zum Zielen bleibt. Dies führt zu einem Pulver, welches lebhaft verbrennt
(brisanter ist)* damit aber entsteht der Nachtheil, daſs der Gewehrlauf, um den
plötzlich auftretenden hohen Druck auszuhalten, ungewöhnlich stark werden muſste, um
die nöthige Sicherheit zu bieten. Man war also ziemlich einig darüber, daſs das neue
Pulver wenig brisant sein und seine volle Kraft erst am Ende des Laufes entwickeln
müsse, also geringen Gasdruck und hohe Anfangsgeschwindigkeit zu leisten habe.
Diese Bedingung war in gleicher Weise für Gewehr- und Geschützpulver gegeben, weil
auch die Artillerie in ihren Schnellfeuer-Kanonen nahezu gleiche Umstände zu
berücksichtigen hatte. Die weitere Feuerentwickelung der beiden Waffen ist jedoch so
verschieden, daſs die Pulverfrage bei beiden vielfach geändert ist, und wir müssen
deshalb zwischen beiden wohl unterscheiden. Spricht man heute von rauchschwachem
Pulver, so denkt man meist an Gewehrpulver.
Obzwar man nun durch Abänderung der Bestandtheile und ihrer Behandlung während der
Erzeugung, sowie durch Umgestaltung der Patronen den vorerwähnten Bedingungen zu
entsprechen suchte, so ergab sich doch bald eine neue Schwierigkeit, welche groſse
Verlegenheit bereiten muſste. War schon früher die Phrase von Pul verdampferfüllter
Atmosphäre keine leere gewesen, so muſste bei dem nun einzuführenden Schnellfeuer
gefunden werden, daſs nicht nur der Rauch sich bis ins Unerträgliche steigern werde,
sondern daſs selbst der Plänkler nach wenigen Schüssen so viel Rauch vor sich lagern
haben werde – da er besonders bei Windstille nicht so rasch zergehen kann, als der
Schütze feuert –, daſs ihm alles Zielen unmöglich sein müsse. Man muſste also nach
einem Pulver suchen, welches rauchlos verbrennt, und da dies wohl theoretisch,
niemals aber praktisch möglich ist, so gab man zuerst in Deutschland den Namen
„rauchschwaches Pulver“ (smoke-feeble powder) den in der Folge
aufgetauchten Producten.
Aus dem Vorhergehenden folgt, daſs an ein „rauchschwaches Pulver“ nunmehr
folgende Bedingungen gestellt werden:
1) hohe Kraft in kleinem Raume,
2) geringes spezifisches Gewicht (um die Patrone leichter zu machen),
3) geringer Gasdruck,
4) groſse Anfangsgeschwindigkeit,
5) groſse Rasanz der Flugbahn,
6) geringe Rauchentwickelung.
Hiezu kommen noch:
7) Unschädlichkeit des Rauches,
8) Beständigkeit des Pulvers,
9) Ungefährliche Handhabung.
Der achte Punkt bedarf einer eingehenden Erörterung, denn wenn auch die anderen
Punkte groſse Ansprüche an das Pulver stellen, so ist doch unter Beständigkeit
desselben eine ganze Reihe von Bedingungen zu verstehen.
Wir werden später sehen, daſs die rauchschwachen Pulver sich hauptsächlich in der
Richtung der irrthümlich sogen. „chemischen“ Explosivstoffe bewegen, nämlich
solcher Stoffe, welche erst künstlich erzeugt werden. Die Bereitwilligkeit, mit
welcher solche Explosivstoffe bei der Explosion in ihre Componenten zerfallen
müssen, führt nothwendigerweise eine nicht unter allen Umständen sicher gestellte
chemische Beständigkeit herbei, und es ist deshalb wichtig, daſs diese unter allen
in der Wirklichkeit möglichen Verhältnissen von Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und
Trockenheit, Schlag und Stoſs, Rütteln, Dauer der Aufbewahrung u.s.w. genügend groſs
sei. Während ferner der von alters her beim Schwarzpulver gefühlte Uebelstand der
Trennung der Bestandtheile durch Feuchtigkeit auch weiter zu berücksichtigen ist,
kommt noch in manchen Fällen die Bildung von Schimmelpilzen hinzu, welche man von
der Schieſsbaumwolle her genügend kennt. Manche Stoffe greifen ferner mit der Zeit
die Wandungen der Patronenhülsen an und bilden neue Verbindungen, welche die
Eigenschaften des Pulvers beeinträchtigen oder der Beständigkeit Eintrag thun.
Wieder andere sind an sich ganz ausgezeichnete Explosivstoffe, jedoch gegen
mechanische Einflüsse empfindlicher, als dies mit der wenig sorgsamen Behandlung im
Kriege oder auf dem Manövrirfelde verträglich ist.
Am naheliegendsten war es, bei der Idee für ein rauchschwaches Pulver auf die
Nitrocellulose zu verfallen. Seit vielen Jahren schon wird Holz-Nitrocellulose als
Schultze'sches Pulver, insbesondere in England, zu
Jagdzwecken verwendet. Dann kam das E. C.-Pulver (vgl. 1883 249 456), welches hauptsächlich aus Schieſsbaumwolle bestand. In neuerer
Zeit wurden mehrfach aus Schieſsbaumwolle erzeugte Pulver, hauptsächlich zu
Jagdzwecken, angegeben, allein sie bahnten sich nur schwer Eingang, und die
englische Jagdzeitung Field hatte öfters über
Unglücksfälle durch Zerspringen der Rohre zu klagen.
Mit der allmählichen Vervollkommnung der Schieſswoll-Fabrikation, wie sie durch die
ausgedehnte Verwendung zu Torpedo- und Granatenfüllungen bedingt war, war ein
Explosivstoff geboten, dessen Eigenschaften ziemlich gleichmäſsig erhalten werden
konnten. Zu gleicher Zeit wurde man durch das Melinit wieder auf die Pikrinsäure und
ihre Derivate aufmerksam, und studirte auch diese eingehender.
An die Verwendung der eigentlichen Schieſsbaumwolle (Trinitrocellulose) konnte nicht gedacht werden, da
ihre Brisanz zu groſs ist. Dagegen fand man, daſs die Collodiumwolle
(Dinitrocellulose, lösliche Schieſswolle) von geringerer Brisanz sei, in nahezu
homogener Zusammensetzung erzeugt werden könne und vielen der an ein rauchschwaches
Pulver zu stellenden Bedingungen entspreche. Immerhin ist aber ihre Brisanz noch
groſs genug, um, allein verwendet, zu hohen Gasdruck und zu unregelmäſsige
Anfangsgeschwindigkeit zu liefern.
Fig. 1., Bd. 275, S. 114
Fig. 2., Bd. 275, S. 114
Die meisten der neueren, mehr oder minder gut bewährten rauchschwachen Pulver
enthalten lösliche Schieſswolle mit anderen, die Brisanz herabmindernden Stoffen
oder zu dem gleichen Zwecke in eigenthümlicher Weise behandelt. Wolff und Comp. in Walsrode, welche schon früher
Schieſsbaumwolle zu Granatenfüllungen in ähnlicher Weise behandelten, versetzen die
Collodiumwolle mit Essigäther, um durch das so entstandene dünne Collodium-Häutchen
die Verbrennung zu verlangsamen. Ganz gleich ist das Vorgehen von H. S. Maxim in London (vgl. 1889 273 66). Derselbe verdampft Essigäther aus einem Reservoir B (Fig. 1 und 2) durch ein Wasserbad C
und führt es mittels der Hähne K und I und der Leitung J in
einen Cylinder A, in welchem die Schieſswolle sich
befindet und woraus die Luft ausgepumpt wurde. Nach der Einwirkung des Essigäthers
wirkt eine Presse auf die Kolbenstange G und den Kolben
F, während der Hahn I
bei abgeschraubter Leitung J geöffnet ist, wodurch ein
ununterbrochener Streifen ausgepreist wird, den man nachher entsprechend
zerkleinert.
Fr. Gaens in Hamburg (unter welchem Namen Einige die von
der Pulverfabrik Rottweil-Hamburg erzeugten Pulver finden wollen) löst
Nitrocellulose in Essigäther zu einer Gelatine, und vermischt auf 25 Th.
Nitrocellulose 60 Th. Kalisalpeter und 15 Th. humussauren Ammoniaks (durch Auslaugen
von Torf hergestellt), welche sodann gepreſst, gekörnt und getrocknet werden.
Das Nobel'sche rauchschwache
Pulver (vgl. 1889 273 67) war ursprünglich als
Modification der Kampher-Sprenggelatine gedacht. Später hat man wohl gefunden, daſs
der Kampher zu unzuverlässig sei und besonderer Reinigung bedürfe, um gleichmäſsige
Leistungen zu ermöglichen. Gegenwärtig wird nach Privatnachrichten das Nobel'sche rauchschwache Pulver aus einer Gelatine von
50 Th. Nitroglycerin und 50 Th. Collodiumwolle hergestellt. Da die Erzeugung von
Gelatine mit einer so groſsen Menge von Nitrocellulose direkt nicht möglich wäre, so
fügt man eine genügende Menge von Benzol zum Nitroglycerin, das mittels einer Brause
in feinen Strahlen auf die Nitrocellulose gegossen wird. Die Masse wird sodann, nach
Abdampfung des Benzols, zwischen geheizten Walzen zu Blättern gerollt, hernach zu
dünnen Streifen und dann zu Körnern zerschnitten, die Blätter haben ein
dunkelbraunes Ansehen, das Pulver ist mehr gelbbraun. Zündet man ein solches
Pulverblatt an, so brennt es schichtenweise unter Funkensprühen ab. Das Aussehen der
Blätter läſst sich am besten mit rohem Kautschuk vergleichen.
Es ist interessant, daſs in dem Falle des Nobel'schen
Pulvers einer der kräftigsten Explosivstoffe, das Nitroglycerin, hauptsächlich die
Rolle spielt, die Brisanz der Collodiumwolle herabzumindern, und selbst unter dem
Einflüsse des Gewehr-Zündhütchens nur verbrennt, nicht detonirt. Die Art der
Herstellung, welche bei Gelatine immer ein groſses Hinderniſs für die
Gleichmäſsigkeit des Productes ist, läſst auch für das rauchschwache Pulver nur
einen beschränkten Grad von Verläſslichkeit zu, und dies ist wohl mit ein Grund,
warum dieses sonst so viele werthvolle Eigenschaften besitzende Pulver nicht zum
Gebrauche gelangt ist.
Abel und Dewar sollen sich
jetzt für die englische Regierung mit der Vervollkommnung des Gelatinir-Verfahrens,
sowie mit der Herstellung eines Pulvers beschäftigen und dem Vernehmen nach
ausgezeichnete Resultate erzielt haben. Dieses neue Pulver, Cordite genannt, ist gleichfalls braun, in der Form dünner Fäden von der
Länge der Patrone, welche zu einem Bündel vereinigt sind.
Die schweizerische Regierung hat schon ein rauchloses Pulver P.-C. 88
(Pulver-Composition 88) eingeführt, das bei 2g,4
Ladung im 7mm,5 Schmidt-Gewehre 615m
Anfangsgeschwindigkeit und nur 1300 atmosphären Maximaldruck lieferte, und von Schenker und Amsler Sohn
zusammengesetzt wurde.
Die französische Regierung hat schon seit langem das von Vieille hergestellte rauchlose Pulver aus Collodiumwolle.
Oesterreich-Ungarn scheint neuestens eines von Major Schwab zu begünstigen, welches als grauschwarzes, groſskörniges,
chemisches Product beschrieben wird. Belgien arbeitet an der Herstellung von
Holz-Nitrocellulose. Deutschland, welches wohl die meisten Versuche von
Privatpulvern machte, soll es kürzlich abgelehnt haben, ferner von Privatfirmen
erzeugte Pulver anzunehmen, nachdem es erst jüngst eine groſse Parthie wegen
mangelhafter Güte zurückwies, und im Allgemeinen nicht den gewünschten Grad von
Verläſslichkeit erzielen konnte. Deutschland soll in dem von Generalmajor Küster in Spandau hergestellten Pulver ein sehr gutes
Schieſsmittel besitzen.
Im Allgemeinen läſst sich wohl behaupten, daſs bisher noch kein vollkommenes,
rauchschwaches Pulver erfunden wurde. Soweit bekannt, hat noch jedes seine
Nachtheile, und einzelne Regierungen, welche nicht unmittelbar bedroht sind, warten
deshalb lieber ab.
Für Geschützpulver spielt Pikrinsäure und ihre Verwandten eine groſse Rolle. Es
scheint noch verfrüht, näher hierauf einzugehen, da Unregelmäſsigkeiten in der
Zusammensetzung des Pulvers bei groſsen Schüssen sehr fühlbar sind, und bisher noch
nichts wirklich Gutes vorhanden ist. Im Allgemeinen wird Schieſsbaumwolle und
pikrinsaures Ammon bei den Compositionen der Schieſs- und Sprengladungen – nebst
geschmolzener Pikrinsäure – vorgezogen.
Da die Patente verschiedener Fabriken mit einander zu collidiren scheinen und die
rauchlosen Pulver viele Aehnlichkeit mit einander haben, so haben einige deutsche
Pulverfabriken mit den Nobel'schen Fabriken eine
Einigung geschlossen, welche alle Betheiligten vor Concurrenz bewahrt und wohl auch
Gewähr für die Erreichung eines guten Pulvers
bietet.
Oscar Guttmann.