Titel: | Zur Theorie der Quintenz-Waage; von Trajan Rittershaus, Professor am Polytechnicum in Dresden.. |
Fundstelle: | Band 216, Jahrgang 1875, Nr. , S. 32 |
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Zur Theorie der Quintenz-Waage; von
Trajan Rittershaus,
Professor am Polytechnicum in Dresden.Vom Verf. gefälligst eingesendeter Separatabdruck aus dem
Civilingenieur 1875 S
45 — Der „Civilingenieur“ wird seit
Neujahr von Prof. Dr. E.
Hartig herausgegeben, unter Mitwirkung der Professoren am
Dresdener Polytechnicum Dr. W.
Fränkel, L.
Lewicki, O. C.
Mohr, A.
Nagel, T.
Rittershaus, J. B.
Schneider und Dr. G.
Zeuner.
Mit Abbildungen.
Rittershaus, zur Theorie der Quintenz-Waage.
Ein mir befreundeter Fabrikant von Brücken- und Tafelwaagen klagte mir
unlängst, wie er durch die Praxis nach und nach darauf geführt worden sei, die
beiden Hängeschienen der Quintenz-Waage, von denen die eine bekanntlich den
oberen eigentlichen Waagebalken mit dem unteren Hebel verbindet, während durch die
andere das eine Ende der Brücke direct am Waagebalken aufgehängt ist, nicht genau
vertical zu hängen, sondern denselben eine merkliche Neigung zu geben. Er wisse sich
über den Grund keine Rechenschaft zu geben, aber sobald er dieselben genau vertical
stelle, versage die Waage sehr leicht ihren Dienst.
Es scheint demnach, als ob der wirklich zwingende Grund für diese auf den ersten
Blick auffällige Regel der Praxis, so sehr derselbe auf der Hand liegt, bisher
übersehen, oder zum Mindesten nicht so bekannt sei, wie er es verdient. Ich erlaube
mir daher, in den nachfolgenden Zeilen kurz auf denselben hinzuweiseu.
Ich nehme sogleich geneigte Hängeschienen an, und zwar möge die Neigung die der
Skizze (Holzschnitt I) sein. In der mittleren Stellung
ist Gleichgewicht vorhanden, wenn die von der Last W
herrührenden
Textabbildung Bd. 216, S. 32
Kräfte X und Y und die von P herrührenden
Reactionen X und Y je
einander gleich sind; denn die entstehenden Kräftepaare können nicht zur Wirkung
kommen, da die Drehung der Hängeschienen nur um die resp. im Unendlichen liegenden
Pole möglich.
Anders, wenn das Gleichgewicht durch absichtliche Bewegung des Waagebalkens oder
durch Zufall gestört wird. Bewege sich zunächst die Last W abwärts, etwa bis zu der in feineren Linien ausgezogenen Stellung der
Hebel, so rückt zugleich der Pol P für die erste Hängestange von rechts aus dem
Unendlichen bis in die gezeichnete Lage. Jetzt ist aber das Kräftepaar durchaus
nicht mehr wirkungslos, es wird vielmehr die Hängestange um P zu drehen streben,
folglich, da das Kräftepaar ein links drehendes, die Hebelverbindung noch weiter aus
der Mittellage entfernen, das Gleichgewicht noch weiter stören. Entsprechend verhält
es sich mit der entgegengesetzten Bewegung. Der Pol kommt dann von links bis in
endliche Entfernung und das linksdrehende Kräftepaar wird abermals das Gleichgewicht
noch weiter stören. Das Gleichgewicht ist also labil.
Genau das Gegentheil tritt ein, wenn die Hängeschiene nach der entgegengesetzten
Seite geneigt ist. Es liegt nach wie vor nach einer Störung des Gleichgewichtes der
Pol P in endlicher Entfernung rechts oder links; da aber jetzt das Kräftepaar ein
rechtsdrehendes, so wird durch dasselbe beide Male
die Hebelverbindung wieder in die mittlere Gleichgewichtslage zurückgeführt, das
Gleichgewicht ist also ein stabiles.
Ich habe bisher nur von der ersten Hängeschiene gesprochen — derjenigen,
welche die beiden Hebel mit einander verbindet; und es genügt auch vollständig, den
Satz nur für diese zu beweisen. Ich will aber der Vollständigkeit halber zeigen, daß
dasselbe auch für die zweite Hängeschiene gilt. Der Pol für dieselbe ist ungleich
schwieriger zu bestimmen, weil es sich hier um Bewegung eines Systemes zweiter
OrdnungAronhold: Grundzüge der kinematischen Geometrie;
Verhandlungen des Vereins für Gewerbefleiß, 1872 S. 130. handelt,
und werde ich daher zunächst die Construction für den Pol zu geben haben —
eine Construction, die auch für Systeme dritter, vierter, ..... nter Ordnung gilt, und welche meines Wissens bisher
allgemein noch nirgends gemacht ist, obgleich wir im Maschinenbau weit mehr mit
Systemen höherer Ordnung als mit Systemen erster Ordnung arbeiten.
Ist gegeben, Figur II, die
Hebelverbindung A B C D E F G mit dem festgehaltenen
Gliede A D, so wird gesucht der Pol für die Bewegung von
F G resp. E G gegen A D.
Textabbildung Bd. 216, S. 34
Derselbe ist direct nicht zu
bestimmen, weil die vom Punkte G beschriebene Curve
nicht bekannt ist. Indirect dagegen findet sich derselbe
sehr leicht, wie folgt.
Offenbar ist P1 der Pol für die Bewegung von C D gegen A B. Ziehe EP1 bis zum Schnitte
P2 mit F G, so ist
P2 Pol von EG gegen
AB (als Schnitt der Normalen zu den
Curven-Elementen). Der gesuchte Pol von EG gegen
A D ist aber offenbar resultirender PolAronhold, a. a. O. S. 136. — Vergl. auch
meine Abhandlung über Ellipsographen ebendaselbst 1874, S. 294.
aus den Polen von E G gegen A
F und von A F gegen A
D. Da aber A ein fester Punkt ist, so fällt der
letztere Pol beständig mit A zusammen; der gesuchte Pol
liegt folglich auf der Geraden AP2. Derselbe liegt aber außerdem auf der Normalen zu
der von E beschriebenen Bahn, der Geraden D E; der gesuchte Pol ist folglich gefunden als der
Schnitt P dieser Geraden mit der zuerst gefundenen AP2.
In derselben Weise finden wir den Pol P′ für die Bewegung von F G gegen A D.Die Constructionslinien sind zum Unterschied von den für die Construction von
P benützten gestrichelt. Und da der Punkt G gemeinsamer Punkt von F G und E G, die von ihm beschriebene Bahn also auch beiden
Systemen angehört, so folgt noch: P, G und P′
liegen auf einer Geraden.
Die Hebelverbindung ist nun aber mit der der Quintenz-Waage identisch, wenn in
der mittleren Lage, in welcher A B parallel C D ist, für unendlich kleine Bewegung G E parallel zu sich selbst bleibt; dann ist es offenbar
gleichgiltig, an welcher Stelle der G E die zu wägende
Last wirkt. Dies findet aber statt, wenn der Pol P für diesen Fall im Unendlichen
liegt, d. h. AP2
Parallel D E wird. Daraus folgt nun zunächst noch
sofort, da auch AB momentan parallel C D ist, die Proportion:
AP2 :
D E = P2P1 : P1E = AP1 : P1D = BP1 : P1C
und daraus
Textabbildung Bd. 216, S. 34
und dies ist die Grundbedingung für die
Qnintenz-Waage.
Es muß also der Schnittpunkt der durch A und B gelegten Parallelen zu D E
und C E ein Punkt der Hängeschiene G F sein.
Liegt, wie das in der Ausführung aus anderen Gründen stets der Fall ist, der Punkt
E auf der Geraden C D,
so liegt auch P2 auf A B
und theilt die letztere Strecke nach dem gleichen Verhältniß, wie der Punkt E die Strecke C D. Und wenn,
wie das in der Skizze angenommen, außerdem auch noch der Punkt F auf A B liegt, was aber
nicht Bedingung ist, so folgt die bekannte Regel: Aufhängepunkt F der Hängeschiene für die Brücke und Stützpunkt E für diese letztere theilen die Hebel A B und C D nach demselben
Verhältniß.
Jetzt haben wir aber auch den Pol für die Bewegung der zweiten Hängeschiene F G in der Mittelstellung im Unendlichen, und er rückt
in derselben Weise wie der für B C von rechts oder links
bis in endliche Entfernung bei Störung des Gleichgewichtes. Es gilt folglich auch
für die zweite Hängeschiene das Gleiche wie für die erste. Beide müssen entweder genau in der Richtung der Schwere liegen, oder besser, da
dies sehr schwer zu erreichen, auch durch nicht ganz genau horizontale Aufstellung
der Waage illusorisch gemacht wird, merklich in zu Fig. I entgegengesetzter Richtung geneigt sein.
Das hier Bewiesene gilt übrigens durchaus nicht allein für die Quintenz-Waage.
Es läßt sich, mit geringen durch die Verschiedenheit der Construction bedingten
Variationen sofort auf sämmtliche Brücken- und Tafelwaagen ausdehnen, mit
alleiniger Ausnahme der Waagen von Roberval und von George. Alle mit Ausnahme der beiden letzteren, welche
vollständige Parallelführungen, sind unvollständige Hebel-Parallelführungen,
und an allen kommen Verbindungsglieder ähnlich den Hängeschienen B C und F G der
Quintenz-Waage vor.
Namentlich sehr unangenehm tritt die fehlerhafte Wirkung des Kräftepaares auf bei der
Waage von Milward, wo dasselbe je nach der Lage der Last
einen größeren oder kleineren, immer aber sehr bedeutenden Hebelarm hat, während die
Kraft desselben gleich der Last ist, also auch weit größer als bei der Waage von Ouintenz, und kann ich mir daher in der That kaum denken,
daß sich mit dieser Waage auch nur einigermaßen genaue Wägungen ausführen
lassen.