Titel: | Die Anwendung von Stahlschienen in Rußland und die neuesten Festsetzungen der Bedingnißhefte; von W. v. Lindheim. |
Fundstelle: | Band 207, Jahrgang 1873, Nr. XCVIII., S. 354 |
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XCVIII.
Die Anwendung von Stahlschienen in Rußland und
die neuesten Festsetzungen der Bedingnißhefte; von W. v. Lindheim.
Aus der Zeitschrift des österreichischen
Ingenieur- und Architektenvereines, 1873 S. 13.
Lindheim, über die Anwendung von Stahlschienen in
Rußland.
Der rasche Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes hat in der letzten Zeit die
Discussion über eine eben so wichtige als interessante Frage wachgerufen. Es handelt
sich nämlich darum, schlüssig zu werden, ob es angezeigt sey, auch für die neuen
Bahnen Stahlschienen statt der Eisenschienen zu verwenden. Die genaue Prüfung dieser
wichtigen Angelegenheit ist insofern zu Gunsten der Stahlschienen entschieden
worden, als das kaiserlich russische Ministerium der Communicationen bereits die
Genehmigung gegeben hat, die Bahnen von Wjasma nach Tula, Rjask und Jeletz, sowie
von Morschansk nach Siezran, zusammen etwa 1300 Kilometer, mit Stahlschienen
auszurüsten.
Hierdurch ist praktisch der Beweis gegeben, daß das Finanzministerium, welches die
Prioritäten dieser Bahn, die drei Viertheile des Gesammt-Capitales ausmachen,
vollständig, und die Actien, welche ein Viertel des Gesammt-Capitales
ausmachen, für die Dauer von 15 Jahren garantirt, auch seine Rechnung dabei findet,
indem es den General-Unternehmern die entsprechende Zulage gibt, um die Bahn
mit Stahlschienen auszurüsten. Es ist interessant zu wissen, daß dieser Zuschuß
unter den gegenwärtigen Verhältnissen auf 1023 Rubel pro
Werst festgesetzt wurde.
Merkwürdig ist es in der That, daß man in anderen Ländern, namentlich in Oesterreich
und Deutschland, wo der Verkehr doch viel größere Dimensionen erreicht als in
Rußland, sich nicht veranlaßt gesehen hat, ähnliche Reflexionen anzustellen; wir
sind überzeugt, daß hier die Rechnung noch weit günstigere Resultate für den
Subventionen zahlenden Staatssäckel ergeben würde.
Das Gewicht der Stahlschienen für die neuen russischen Bahnen ist auf 20 Pfund
russisch per laufenden Fuß, das ist auf 26,88 Kilogramme
per Meter festgesetzt worden. Diese Schiene soll die
eiserne Schiene, im Gewicht von 24 Pfund russisch per
laufenden Fuß oder 32,26 Kilogrm. per Meter
ersetzen.
Man hat sich nach langen Debatten über eine Vignolesschiene von 107,95 Millimet. Höhe, 95,25 Millimet. Breite des
Fußes und 12 Millimet. im Steg geeinigt, ein Profil welches zwar schwer zu walzen
ist, jedoch eine
vortreffliche Section abgibt, um eine solide Laschenverbindung zu ermöglichen. Die
Länge der Schiene ist auf 24 Fuß festgesetzt worden, und auch hierzu hat man sich
ungern verstanden, weil die Normallänge der russischen Fahrzeuge nur 21 Fuß englisch
beträgt und mit Zuhülfenahme der Bufferlänge allerdings 24 Fuß das Maximum der
Verladungsfähigkeit ist. Immerhin bleibt es für die Eisenbahn-Direction ein
wichtiger Punkt, dem Fabrikanten keine zu kurzen Schienen vorzuschreiben, weil die
Herstellungskosten in Rücksicht auf das so sehr verminderte Gewicht bei Festhalten
der sonst üblichen Dimension von 21 Fuß nicht unerheblich gesteigert werden. Die
praktischen Amerikaner haben aus diesem Grunde in neuerer Zeit auch die Länge der
leichten Schienen auf 27 bis 30 Fuß erhöht.
Nicht weniger ernstliche Verhandlungen fanden statt, um das Bedingnißheft und
namentlich die Proben festzustellen, welchen die Schienen zu unterwerfen sind. Die
Kommission, welche aus den erfahrensten Eisenbahn-Ingenieuren bestand, hat
sich nach langen Debatten endlich dahin geeinigt, daß Stahlschienen im Gewichte von
20 Pfund per laufenden Fuß die nachstehenden Versuche
auszuhalten haben:
1. Probe: Todtes Gewicht bei einer
Support-Entfernung von 3 Fuß Die Schiene wird mit 16 1/2 Tonnen während 5
Minuten belastet, wobei die Durchbiegung nicht über 0,15 Zoll betragen darf. Nach
Wegnahme des Gewichtes darf die bleibende Durchbiegung nicht 0,04 Zoll = 1 Millimet.
überschreiten.
2. Probe: Entfernung der Supports 3 1/2 Millimeter,
Gewicht des Fallbäres 1/2 Tonne, Fallhöhe 9 3/4 Fuß, ein Schlag, ohne zu brechen,
während Eisenschienen von 24 Pfund per laufenden Fuß
denselben Proben mit der Hälfte der hier angeführten Belastungen und Gewichte
unterworfen werden.
Wir freuen uns, daß dieses Resultat erreicht wurde, und es zeigt uns diese
Festsetzung, daß die technischen Autoritäten in Rußland die Frage ebenso
gewissenhaft wie gründlich studirt haben. Es ist nothwendig, darauf hinzuweisen, daß
das russische Klima höhere Anforderungen an die Haltbarkeit und die
Widerstandsfähigkeit der Schienen stellt, als dieß in anderen Ländern der Fall ist.
Man hat in früheren Jahren geglaubt, daß man das Maximum der Haltbarkeit durch eine
sehr strenge Schlagprobe erreichen könne. Die Erfahrung hat aber bei Eisen-
und bei Stahlschienen gezeigt, daß Schienen welche diese Probe mit Leichtigkeit
aushielten und in Folge dessen während der Dauer ihres Dienstes wenig oder gar keine
Brüche zeigten, doch so wenig hart waren, daß sie eine weit kürzere Zeitdauer
hatten. Aus diesem Grunde ist die Fallprobe, welche man früher mit 5 Meter und 1000 Kilogrm.
annahm, um 50 Proc. bei den Schienen von 26 Pfund für den laufenden Fuß reducirt
worden. Eine entsprechende Reduction hat bei dem leichten Profile stattgefunden.
Weit wichtiger als die Fallprobe scheint für uns die Biegeprobe zu seyn. Die
französischen Bedingnißhefte haben in dieser Hinsicht die rationellsten Bestimmungen
und däucht es uns in der That auch viel richtiger, die Schienen einer Anzahl Schläge
von verschiedener Fallhöhe auszusetzen, und hierbei das Maximum der erlaubten
Durchbiegung vorzuschreiben, d.h. den Schienen einen entsprechenden Härtegrad zu
geben, als dieselben in so weicher Qualität anzufertigen, um eine Schlagprobe von
außerordentlichen Dimensionen auszuhalten.
Stahlschienen haben sich in Rußland nach den Erfahrungen der letzten Jahre ganz
vorzüglich bewährt. Das größte Quantum hat mit 96,000 Schienen bisher die
Nicolaibahn in Anwendung gebracht und weisen dieselben nach dreijährigem Dienste
0,87 Maximal- und 0,03 Minimal-Abgangsprocente auf, ein Resultat
welches um so bemerkenswerther ist, als die Nicolaibahn (auf zwei Geleisen) eine
Einnahme von 182 Frcs. per Tag und Kilometer hat, mithin
zu den am stärksten befahrenen Bahnen der Welt gehört.
Eine nicht minder wichtige Frage für die Haltbarkeit der Schienen ist die Anordnung
der Einkerbungen für die Schienennägel. Es dürfte für den größeren Leserkreis
wichtig seyn, die Resultate kennen zu lernen, welche bezüglich der
Widerstandsfähigkeit von Stahlschienen, die auf verschiedene Art eingekerbt sind,
durch eingehende Versuche zu Tage gefördert wurden.
Diese Resultate zeigen, wie ungemein wichtig die Position der Einschnitte ist, und es
dürfte wohl im Interesse der Bahnen liegen, gerade diesem Umstande eine erhöhte
Aufmerksamkeit zu widmen, weil sich ein großer, wir möchten sagen, der größte Theil
der Schienenbrüche aus unzweckmäßigen Anordnungen in dieser Richtung herleiten
läßt.
Proben über die Widerstandsfähigkeit von
Stahlschienen, angestellt auf der Paris-Lyon mittelländischen Bahn bei
verschieden angebrachten Einkerbungen zur Aufnahme der
Schienennägel.
Vergleichs-Tabelle.
Stahlschienen.
Schlagversuche auf Schienen mit und ohne Einschnitte mittelst
eines Fallbäres von 300 Kil.
Die erprobte durchschnittliche
Widerstandsfähigkeit.
Datum
Bessemer-Stahl
Bruch beieiner Fallhöhe
Stahlschienen mit 2
fünfeckigenEinschnitten.
Meter
24. Juli 1871
Einschnitt m. d. Durchstoß
0,256
deßgl.
do.
do. und gefeilt
0,300
28. Juli 1871
Ohne Einschnitt
2,500
deßgl.
Einschnitt m. d. Durchstoß
0,350
deßgl.
do.
do. und gefeilt
0,600
deßgl.
Ohne Einschnitt
3,000
Stahlschienen mit einem
einzigenhalbrunden
Einschnitt.
28. Juli 1871
Einschnitt mit der Fräse
0,800
deßgl.
Ohne Einschnitt
4,000
10. Aug. 1871
Einschnitt m. d. Durchstoß
0,500
deßgl.
do.
do. und gefeilt
0,550
deßgl.
Ohne Einschnitt mit einer Länge von 5,96 Met.
3,620
Durchschnittliche
Widerstandsfähigkeit.
Widerstand gegen einen Fallbär
von 300 Kil. Gewicht
Schienen
nichteingeschnitten
eingeschnittenmit Durchstoß
eingeschnittenmit Durchstoßund
gefeilt
eingeschnittenmit der Frase
Stahlschienen mit 2 fünfeckigen Einschnitten
2,75
0,30
0,45
–
Stahlschienen mit einem halbrunden Einschnitt
3,96
0,50
0,83
0,90
Aus diesen Resultaten erhellt zur Genüge die verstärkte Sicherheit, welche in der
Benutzung von Schienen ohne Einkerbungen oder mit Einkerbungen am Ende liegt.
Wir bemerken zum Schluß, daß die russischen Bahnen im Jahre 1872 als Käufer von
1,400,000 Centner Stahlschienen aufgetreten sind. Den Löwenantheil an diesem großen
Geschäfte haben die Werke von Schneider und Comp. in Creuzot (Frankreich)
zur Lieferung per 1873–1874 übernommen und sich
auf diese Weise ein neues und wahrscheinlich bleibendes Absatzgebiet erschlossen,
weil die englischen Fabriken sich nur mit Widerstreben zur Herstellung von Schienen
verstehen, deren Gewicht wie in vorliegendem Falle, weniger als 20 Pfund englisch
per laufenden Fuß beträgt.
NB. Alle angeführten Maaße in Zollen sind russisch; der
russische Zoll = dem englischen Zoll, das russische Pfd. = 358,322 Grm.