Titel: | Eine Bemerkung zu dem Artikel des Hrn. Prof. Ullherr über die nasse Gasuhr. |
Autor: | J. C. Ullherr |
Fundstelle: | Band 165, Jahrgang 1862, Nr. CVI., S. 436 |
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CVI.
Eine Bemerkung zu dem Artikel des Hrn. Prof. Ullherr über die nasse Gasuhr.
Seidel, über die nasse Gasuhr.
Nachdem ich in Betreff der Bewegung der Gasuhr schon zweimal das Wort genommen hatte,
konnten die Leser erwarten, daß von meiner Seite darüber gesagt sey, was ich sagen
wollte, und daß ich es dabei würde bewenden lassen. Wenn ich gleichwohl noch einmal
um einen Augenblick Gehör bitte, so geschieht es nicht, um auf schon Gesagtes zurück
zu kommen, sondern lediglich, um eine Bemerkung über die Tragweite der neuen
Hülfsmittel zu machen, welche Hr. Professor Ullherr gegen
Pettenkofer's von mir vertheidigte Darstellung in's
Treffen zu führen versucht hat. Sein Aufsatz (S. 259) enthält mathematische Formeln: es ist bekannt, daß viele Leser nur dem Werthe der
Mathematik eine gebührende Huldigung zu erweisen glauben, indem sie Arbeiten, welche
mit Gleichungen verziert sind, mit höherem Respecte betrachten, als solche, die sich
auf einfaches Räsonnement stützen, und man könnte aus verschiedenen Fächern
Beispiele anführen, in welchen in Folge dieses Umstandes, sicher nie der Mathematik,
wohl aber zuweilen den Formeln, allzuviel Ehre erwiesen worden ist. Deßhalb möge es
Entschuldigung finden, wenn ich noch untersuche, was für eine Bewandtniß es denn mit
der Anwendung dieser gefährlichen Präcisionswaffen im vorliegenden Falle eigentlich
hat.
Der Hr. Verfasser wendet auf die Bewegung der Gasuhr, oder genauer gesagt, nur auf
den Endzustand derselben und auf eine volle Umdrehungsperiode, den Satz von der
Erhaltung der lebendigen Kraft an. Er ist weit davon entfernt, den Versuch zu
machen, eine wirkliche analytische Theorie der Bewegung dieser Maschine zu geben:
dazu wäre die Ableitung einer bedeutenden Anzahl von Gleichungen (Integralen der
Aufgabe) nothwendig, welche zur Bestimmung der zahlreichen Unbekannten dienen würden: der mathematische
Charakter des Problems ist aber viel zu complicirt, als daß man mit unseren
dermaligen analytischen Hülfsmitteln sich mit einiger Hoffnung auf Erfolg an das
Unternehmen wagen könnte. Wohl sind schon in verschiedenen Beispielen durch genialen
Scharfsinn Schwierigkeiten besiegt worden, welche Jedermann, nur dem Erfinder nicht,
als unübersteiglich erschienen; thatsächlich liegt uns aber hier kein Versuch einer
solchen Leistung vor, sondern es wird nur auf das Problem dasjenige Integral (in
ganz unentwickelter Form) angewendet, welches eben zur Hand ist. Bereits einige der
Aufstellungen, durch welche der Hr. Verfasser dabei vorgeht, würden Anlaß zu
Anmerkungen bieten, die aber hier bei Seite bleiben können, weil die Folgerungen
über die Controverse erst an die Endgleichungen angeknüpft sind, deren Gültigkeit
dabei wenig berührt wird. Der Hr. Verf. erhält nämlich schließlich zunächst eine
Gleichung (Effectgleichung von ihm benannt) deren Sinn sich in Worten ganz gut geben
läßt. Sie sagt nicht mehr und nicht weniger, als daß die Arbeit, welche von dem bei
einmaliger Umdrehung der Maschine geförderten Gasquantum bei seiner Abspannung von
dem höheren auf den niedrigeren Druck geleistet wird (Q
Δ p), schließlich verbraucht wird, um die verschiedenen während
dieser Periode sich ergebenden Arbeitsverluste (R, W, W)
zu decken. Es ist dieß, wie man sieht, genau diejenige Wahrheit, an welcher kein
Mensch gezweifelt hat; denn darüber, daß die Spannung des Gases die ursprüngliche
Quelle der Triebkraft abgibt, konnte kein Streit bestehen, – und ebenso
einleuchtend ist es, daß nach eingetretenem Beharrungszustand die fortdauernde
Leistung nur im beständigen Ersatz der Bewegungsverluste in der Maschine besteht,
wenn (wie vorausgesetzt) die Förderung des Gases selbst nicht als eine Arbeit
angesehen wird. Alles, was in der Mitte liegt zwischen dem Ursprung und der
schließlichen Absorption der Arbeit, bleibt in dieser Betrachtung und in der
entsprechenden Gleichung außer Frage.
Neben die so gewonnene mechanische Gleichung stellt der Hr. Verf. noch eine rein
geometrische, welche anzeigt, wie das freie Volumen der cylindrischen Trommelfächer
aus den Dimensionen des Apparates zu berechnen ist. Es ist klar, daß die Anweisung
hiezu mit der Controverse, ob die Niveau-Verschiedenheiten des Wassers im
Inneren der Gasuhr für den Gang derselben von Bedeutung sind oder nicht, vollkommen
ebenso wenig zu thun hat, als die vorhin ausgesprochene mechanische Wahrheit. Nach
welcher Logik kann nun aus zwei Dingen, welche beide die Streitfrage nichts angehen,
geschlossen werden, daß in dieser Frage Pettenkofer
Unrecht hat? Welches Menschen Scharfsinn ist wohl im Stande, wenn man ihm gesagt hat, daß in
der Maschine die geleistete Arbeit an den Verlusten consumirt wird, und wenn er
außerdem den Inhalt eines Cylinders berechnen kann, aus diesen zwei Daten das
Allermindeste über Niveaustörungen im Innern und über ihre wichtige oder unwichtige
Rolle zu demonstriren? – Man wird zugeben, daß einfacher Menschenverstand
dieß nicht vermag, – aber vielleicht können Formeln ein Wunder verrichten,
und Uebergänge stiften zwischen Dingen, die nichts mit einander zu thun haben?
Daß dieß ihre Rolle nicht ist, bedarf keines Beweises. Der Mathematiker schließt nach
denselben Gesetzen, wie der Denkende überhaupt, und wenn er aus Gleichungen etwas
abzuleiten versuchte, was in dem Sinn dieser Gleichungen nicht liegt, so hätten
seine Formeln nur gedient, ihn selbst zu verwirren. Man sieht schon hieraus, daß die
Behauptungen, welche in dem Aufsatze nach der Aufstellung der beiden Gleichungen
folgen, und welche sich auf die Streitfrage beziehen, in den vorausgegangenen
Deductionen keine Begründung finden, sondern lediglich als Aeußerungen einer
persönlichen Ansicht zu nehmen sind. Die Verbindung zwischen ihnen und dem
Vorhergehenden kann nur gedacht werden, vermöge folgenden Schlusses: In den beiden
aufgestellten Gleichungen spielt die Niveau-Differenz nur eine geringfügige
Rolle (– sie kommt in der mechanischen Gleichung gar nicht vor, in der
geometrischen liefert sie nur ein wenig bedeutendes Glied –); also spielt sie
auch bei dem physikalischen Vorgang nur eine untergeordnete Rolle. Dieser Schluß
wäre vollkommen irrig. Ich habe schon angedeutet, daß die abgeleitete mechanische
Gleichung weit entfernt ist, über alle Umstände der Bewegung den Aufschluß zu geben,
den eine vollständige Theorie liefern müßte: sie constatirt nur eine Einzige
Thatsache welche bei dieser Bewegung gilt, und welche eben keinen Bezug hat auf die
angeregte Frage. Selbst wenn nicht in dieser Gleichung, wie es wirklich der Fall
ist, unter vier Größen die sie enthält drei völlig
unbekannt wären (die vierte kann aus der beigefügten geometrischen Gleichung
bestimmt werden), so würde aus dem Schweigen der Gleichung über die in Frage
gezogenen Größen einfach gar nichts zu schließen seyn.Wenn man, vermittelst einer Untersuchung welche die wirkliche Bestimmung der
Unbekannten ergeben müßte, sich vorsetzen wollte die Uebereinstimmung der
verschiedenen Betrachtungsarten des Vorganges mit der strengen Theorie zu
prüfen, so müßte man in den analytischen Ausdrücken die verschiedenen
Druckkräfte, welche an den einzelnen Seiten der Innenwände wirken, getrennt
halten bis zuletzt, um dann erst zu controliren was sich aufhebt. Denn die
verschiedenen Darstellungsweisen unterscheiden sich, wie früher erörtert
worden ist, gerade durch die Art wie in ihnen entgegengesetzte Größen
zusammengenommen werden: wenn man daher schon im Laufe der Untersuchung
dieselben theilweise vereinigt, so hat man bereits die Eine dieser
Darstellungsweisen ausgewählt, und kann dann auch nur diese in den
Endformeln ausgedrückt finden. In der Nichtbeachtung dieser Vorsicht scheint
mir der wahre Anstoß zu liegen, durch welchen im vorliegenden Falle die
Betrachtung auf einen Weg geleitet worden ist, wo über die Controverse
nichts entschieden werden kann. Wenn ein Problem der Mechanik vollständig gelöst ist, so erhält man zuletzt eben so viele
Gleichungen, als in der Aufgabe Unbekannte enthalten sind, die zur Bestimmung des
ganzen Vorganges dienen. Man kann also durch algebraische Operationen jede dieser
Unbekannten nach Wahl eliminiren, und für die übrigen neue Gleichungen erhalten, in
welchen die herausgehobene Größe gar nicht mehr vorkommtWenn man wollte, könnte man natürlich auch bewirken, daß sie nur mit einem
kleinen Factor multiplicirt noch vorkäme.; es kann sich auch ereignen, daß schon bei dem zur Integration des Problems
verfolgten Rechnungsgang diese oder jene Unbekannte hier oder dort hinausgefallen
ist; natürlich wird man aus dem Eintreffen eines solchen Falles, das man ja
willkürlich herbeiführen kann, nicht schließen, daß die Größe, welche nicht mehr
explicite in den beibehaltenen Ausdrücken vorkommt, für den physikalischen Vorgang
irrelevant war. Ich will zum Ueberfluß an einem Beispiele zeigen, daß man notorisch
falsche Dinge mit der gerügten Art von Interpretation der Formeln deduciren könnte:
ich wähle ein Solches, das Jedem, der sich mit Mechanik analytisch beschäftigt hat,
vor allen geläufig ist. Wenn man mathematisch die Bewegungen zweier materiellen
Punkte verfolgt, die sich, wie etwa Sonne und Planet, nach dem bekannten Gesetze
gegenseitig anziehen, und die also (wie die Auflösung des Problems ergibt)
Kegelschnitte um den gemeinsamen Schwerpunkt beschreiben, so ist es leicht, die
Endgleichungen in solchen Ausdrücken zu erhalten, daß die Coordinaten, welche den
veränderlichen Ort des Einen Körpers bestimmen, für sich gefunden werden, ohne die
Kenntnißnahme von den ähnlichen Stücken für den veränderlichen Ort des anderen
Körpers zu erfordern. Dürfte man also aus dem Verschwinden der Werthe der letzteren
Größen in den Ausdrücken der ersteren den Schluß ziehen, daß die einen auf die
anderen keinen wesentlichen Einfluß üben, so würde man hier sagen müssen, daß die
Bewegung des einen Körpers nicht abhängig sey von den Oertern, welche der andere
nach und nach einnimmt: im directen Widerspruch mit der wohlbekannten Wahrheit. Ganz
ebenso irrig würde es seyn, wenn man aus dem Umstande, daß die Attraction der Sonne
in der Periode eines ganzen Umlaufs die lebendige Kraft im Planeten um nichts
verändert, den Schluß ableiten wollte, daß diese Attraction bei der Umwälzung in der
Bahn nicht wesentlich betheiligt wäre. Die Argumentation, nach welcher für den Gang
der Gasuhr die Niveau-Aenderung des Wassers unwichtig seyn soll, weil sie in
den von Hrn. Ullherr abgeleiteten Gleichungen hinausgeht oder nicht
vorkommt, ist aber genau von derselben Art: man sieht, daß sie als eine unzulässige
verworfen werden muß. Hiermit fallen nun alle Consequenzen, welche der Hr. Verf. an
seine Gleichungen über unsere Controverse anzuknüpfen versucht hat, zu Boden, und
verwickeln in ihren Sturz auch die sinisteren Prophezeiungen, welche derselbe über
das künftige Schicksal von Pettenkofer's Darstellung des
Vorgangs zu spenden sich veranlaßt sah.
Noch ist dem Artikel ein Einspruch beigefügt gegen diejenige Erörterung des
Gegenstandes, welche ich in meinem ersten Aufsatze gegeben hatte. Der Hr. Verf.
scheint zu bestreiten, daß während des Ganges der Gasuhr der Druck auf die
Vorderseite der untergetauchten Innenwand um den Betrag des Gasdruckes größer ist,
als hier der Wasserhöhe entspricht: ein Punkt, über welchen zu discutiren ich für
unnütz halte. Ebenso scheint er nicht einzuräumen, daß die Flüssigkeit, während sie
noch unter dem Druck des eingetretenen Gases aus ihrem alten Niveau zurückweicht,
auf die Flächenelemente jener Wand, die sie dabei zu umgehen gezwungen ist, einen
einseitig verstärkten Druck ausübt. Die Existenz dieses einseitigen Druckes leugnen,
heißt aber annehmen, daß das Wasser bei der Niveau-Aenderung, welche einen
Theil seiner Masse von der Einen Seite dieser Wand auf die Andere führt, durch die
Flächenelemente derselben auch dann nicht passiren würde, wenn ihm ihre Festigkeit
kein Hinderniß in den Weg stellen würde. Eine solche Neigung der zurückgetriebenen
Flüssigkeit, ganz ohne Nöthigung um eine Wand herumzugehen, auf die man sie nicht
gerne will drücken lassen, würde wirklich ein „wunderbares
Naturgesetz“ constituiren, – für Diejenigen die daran glauben.
Jedoch ist der Satz, der die Andeutung desselben zu enthalten scheint, mit allerlei
Clauseln versehen, welche die Möglichkeit durchblicken lassen, daß zuletzt Alles,
anstatt auf einen Widerspruch in der Sache, darauf hinauslaufen wird, für dieselbe
einen anderen Ausdruck vorzuschlagen, oder auch wohl das ganz neu entdeckte
Geheimniß zu proclamiren, daß unsere theoretischen Hülfsmittel zur Zeit nicht
ausreichen, um die strengen Werthe der Größen zu bestimmen, die bei einer in
complicirter Bewegung begriffenen Flüssigkeit in Betracht kommen. Im einen wie im
anderen Falle hoffe ich aber entschuldigt zu seyn, wenn ich an den wichtigen und
lehrreichen Erörterungen, welche dann in Aussicht stünden, keinen Antheil nehme; ich
glaube meinen Beitrag für die Beurtheilung dieser Einsprüche gegen Pettenkofer's ursprünglichen Aufsatz (die übrigens auch
unter einander in Widerspruch stehen) nunmehr geliefert zu haben.
L. Seidel.