Titel: Reisenotizen von Professor Rühlmann.
Fundstelle: Band 159, Jahrgang 1861, Nr. LXXXIX., S. 323
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LXXXIX. Reisenotizen von Professor Rühlmann. Aus den Mittheilungen des hannoverschen Gewerbevereins, 1860 S. 271. Mit einer Abbildung auf Tab. VI. Rühlmann's Reisenotizen. 1) Der Eisenbahntunnel durch den Mont Cenis.Vollständigere Mittheilungen nebst zugehörigen Abbildungen wird die Zeitschrift des hannoverschen Architekten- und Ingenieurvereins bringen. Zuvörderst mag bemerkt werden, daß der fragliche Tunnel nicht durch den eigentlichen Mont Cenis, sondern südwestlich von demselben durch den 2949 Meter (10128 Fuß hannov.) hohen Col de Fréjus geht, daß derselbe auf italienischer (piemontesischer) Seite bei dem Flecken Bardonnèche beginnt und auf französischer (savoyischer) Seite unweit des Städtchens Modane einige hundert Fuß höher mündet als die Chaussee liegt, welche über den Mont Cenis (nach Turin) führt. Die Bahnsohle im Tunnel liegt 1338 Meter (4596 Fuß hannov.) über dem Meere, während sich über dem Scheitel des Tunnels eine Gebirgsmasse (wesentlich Kalkstein) von 1610,73 Meter (5532 Fuß hannov.) größter Höhe erhebt. Letztere Dimension lehrt hinreichend, daß hier beim Bau von der Herstellung sogenannter Luftschächte oder Lichtschächte nicht die Rede seyn kann und sich dem zufolge Schwierigkeiten einstellen müssen, die ihrer Art nach fast beispiellos genannt werden können. Zur Zeit meines Aufenthaltes an den Tunnelbaustellen (in der letzten Hälfte des Monats August 1860) hatte man auf italienischer Seite etwa 600 Meter Länge und auf französischer Seite reichlich 400 Meter, also überhaupt 1000 Meter völlig vollendet, indem man täglich lediglich bei Handarbeit auf der erstgenannten Seite (in weicherem Gestein) um eine durchschnittliche Länge von einigen achtzig Centimetern, auf letzterer Seite (in härterem Gestein) einige sechzig Centimeter fortgeschritten war. Da die ganze herzustellende Tunnellänge 12 1/4 Kilometer (fast 1 2/3 deutsche Meilen) beträgt, so würde, wäre künftig die Arbeit nicht rascher zu bewirken, eine sehr lange Zeit vergehen, bis die Vollendung des Ganzen erwartet werden könnte. Man hat daher sowohl hierauf als auch auf den Umstand Rücksicht genommen, daß bei weiterem Fortschreiten der Arbeit den dabei thätigen Menschen frische atmosphärische Luft von außen zugeführt wird. Zur Beschleunigung der Arbeit wird man künftig die Bohrlöcher zum Sprengen des Gebirges mittelst Schießpulver mit Hülfe von ebenso einfachen wie sinnreichen und wirksamen Bohrmaschinen herstellen und als Motor derselben zusammengepreßte atmosphärische Luft verwenden, die in 20 Centimeter weiten Röhren von außen nach innen zu den Arbeitsstellen getrieben wird und gleichzeitig den dort beschäftigten thätigen Menschen frische Luft schafft. Auf der italienischen Seite (in Bardonnèche) benutzt man zum Verdichten der atmosphärischen Luft den vom Oberingenieur des Baues Hrn. Sommeiller angegebenen sinnreichen Apparat, welcher durch unmittelbare Wirkung natürlich zufließenden Wassers von sehr hohem Gefälle in Thätigkeit gesetzt wird und dessen Anordnung und Wirkungsweise fast ganz dem entspricht, was im polytechn. Journal Bd. CXLIX S. 164 von einem in Hannover patentirten dortigen Apparate angeführt, beschrieben (und durch Abbildungen erläutert) wurde. Auf der französischen (savoyischen) Seite fehlt ein so großes Gefälle, weßhalb man hier als Recepteure Wasserräder anwendet, welche vom Arc-Flusse beaufschlagt, große Luftcompressionsmaschinen (eine Art von Cylindergebläse) in Bewegung setzen. Die während meines Aufenthaltes in Bardonnèche mit den bemerkten Maschinerien angestellten Versuche lassen an dem Gelingen keinen Zweifel mehr übrig, berechtigen vielmehr zu der Hoffnung, daß man, wenn Alles in vollem Gange ist, täglich auf jeder Seite um mindestens 3 Meter, überhaupt also um 6 Meter mit dem Durchbrechen fortschreiten, mithin die ganze Arbeit in vielleicht 6 Jahren vollenden wird. 2) Der Betrieb der schiefen Ebene dei Giovi auf der Genua-Turiner Bahn, zwischen Pontedecimo und Busala. Kein Techniker, welcher mit dem heutigen Eisenbahn- und Maschinenwesen einigermaßen vertraut ist, wird sich, wenn er das herrlich am Fuße der Alpen am Pothale gelegene Turin zu besuchen hat, die Gelegenheit entgehen lassen, den Betrieb der schiefen Ebene von Giovi, in der Turin-Genuaer-Eisenbahn, kennen zu lernen, welche letztere bekanntlich zwischen der Po-Ebene und dem mittelländischen Meere die Apenninenkette fast rechtwinklig durchbricht. Für diejenigen Leser, welchen anderweite (jedoch ältere) Nachrichten über diese höchst interessante Eisenbahnstrecke nicht bekannt geworden sind,Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens (Bericht des Hrn. v. Weber), Jahrgang 1859 S. 205. werde bemerkt, daß die geneigte Ebene und zwar mit einem Tunnel von 3300 Meter Länge (7420 Meter gehören zu einer geographischen Meile), auf der 10 Kilometer langen Bahnabtheilung zwischen Pontedecimo und Busala liegt und daß der bemerkte Tunnel den Gebirgspaß „dei Giovi“ durchsetzt. (Krümmungen kommen dabei nur bis zu 400 Meter Radius vor.) Die stärkste Steigung dieser Bahnstrecke ist 35 Meter auf 1000 Meter, oder 1/28,7, während die mittlere Steigung im Tunnel 28 Meter auf 1000 Meter, oder 1/35,7 beträgt.Bei der Semmeringbahn beträgt die ungünstigste Steigung 25 Meter auf 1000 Meter, oder 1/40. Bei Hauenstein (Olten-Basel) 26,5 Meter auf 1000 Meter, oder 1/37,7.Zwischen Chaux-de-fonds und Neuenburg 27,0 Met. auf 1000 Met., oder 1/37. In gewissen Abständen werden diese Steigungen durch kurze Horizontalstrecken zweckmäßig unterbrochen. Diese ungewöhnlichen Steigungen befährt man mit freien Locomotiven eigenthümlicher Construction, wovon Fig. 22 eine Idee gibt.Vollständige Zeichnungen enthält das Portefeuille de John Cockerill, Tome I, pag 395. Pl. 51. Liège 1859. Zur Zeit ist auf dem Continente diese Bahn die stärkstgeneigte, welche mit Locomotiven befahren wird.Virginien (Nordamerika) hat allein eine Strecke (Richmond-Ohio) von noch stärkerer Steigung aufzuweisen, nämlich 56 Meter auf 1000 Meter, oder 1/18. Der Natur der Sache nach war man auf die Resultate neugierig, zu welchen die Erfahrung nach einigen Jahren des Betriebes führen mußte, weßhalb es mir von größtem Interesse war, 1860 an Ort und Stelle zu hören, daß man mit Allem höchst zufrieden sey, und wäre man genöthigt von Neuem anzufangen, Anordnung und Betrieb abermals in ganz gleicher Weise ausführen würde. Hiernach erhöht sich offenbar das Interesse der Bahn, weßhalb ich auf einige speciellere Angaben eingehen will. Wie Fig. 22 erkennen läßt, besteht die Zugmaschine aus zwei vierrädrigen mit ihren hinteren Enden zusammengeschobenen Locomotiven, welche von einem Maschinisten und zwei Heizern bedient werden und welche zugleich seitwärts (in unserer Abbildung nicht sichtbar) mit den erforderlichen Räumen für Kohks und Wasser versehen sind, wonach die Maschinen also zur Gattung der sogenannten Tender-Locomotiven gehören. Jede dieser Locomotiven ist mit zwei außenliegenden Dampfcylindern versehen, deren Kolben 0,356 Met. Durchmesser und 0,560 Met. Hub haben und wobei der als Motor dienende Wasserdampf durchschnittlich eine Spannung von 6 Atmosphären Ueberdruck besitzt. Andere Hauptdimensionen sind in der Abbildung eingeschrieben, weßhalb nur noch bemerkt werden mag, daß die paarweise gekuppelten Räder einen Durchmesser von 1,068 Meter haben, die Kessel 119 Röhren von 51 Millim. lichter Weite enthalten, die Gesammtheizfläche 72,15 Quadratmeter und das Totalgewicht beider Locomotiven 54000 Kilogramme oder 54 Tonnen beträgt. Zwischen den beiden Achsen jeder Locomotive bemerkt man die kräftigen Schlitten oder Laignel'schen Bremsen, die auch anderwärts bereits Anwendung gefunden haben. In der Regel sind beide Locomotiven mit ihren hinteren Enden verkuppelt zu einem Ganzen verbunden, indeß kann auch jede für sich allein in Anwendung gebracht werden, wenn Züge von sehr geringem Gewichte zu transportiren sind. Mir wurde aus glaubwürdigem Munde versichert, daß man mit den beiden gekuppelten Locomotiven durchschnittlich ein Traingewicht von 70 bis 90 Tonnen, je nach dem Zustande der Schienen, mit 20 Kilometer Geschwindigkeit pro Stunde fortbewegt. Nach eigener Erfahrung kann ich versichern, daß der Betrieb in jeder Hinsicht sicher und schnell vor sich geht und in diesen Beziehungen das System nur empfohlen werden kann. Was die Betriebskosten anlangt, so habe ich hierüber folgende Notizen gesammelt. Im Verhältniß zu einer Bahn mit Steigung von 8 bis 10 Met. auf 1000 Meter Länge, oder 1/125 bis 1/100, ergibt sich bei Pontedecimo-Busala, pro Kilometer auf- und abwärts in einander gerechnet, ein nahe 2 1/2 mal größerer Brennmaterialverbrauch und ein fünffacher pro Tonne Nettoladung; für die Reparaturkosten der Locomotiven das Fünffache pro durchlaufenen Kilometer und pro Tonne Ladung das Zehnfache; für die Bahnunterhaltung das Zwei- und Dreifache pro Kilometer Bahn.Man sehe auch den interessanten, werthvollen und ausführlichen Bericht über diese Bahn, welchen der französische Ingenieur Couche in den Annales des ponts et chaussées 1858. Nr. 199 erstattete.

Tafeln

Tafel Tab. VI
Tab. VI