Titel: | Ueber die Stärke und die Krümmung der Dampfkessel, von Hrn. Lamé. |
Fundstelle: | Band 116, Jahrgang 1850, Nr. I., S. 1 |
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I.
Ueber die Stärke und die Krümmung der
Dampfkessel, von Hrn. Lamé.
Aus den Comptes rendus, Febr. 1850, Nr.
7.
Mit einer Abbildung.
Lamé, über die Stärke und die Krümmung der
Dampfkessel.
Die Mathematiker, welche sich mit der Untersuchung des Gleichgewichts elastischer
Körper beschäftigt haben, sind bis jetzt nur mit einer kleinen Anzahl sehr einfacher
Fälle vollständig zum Ziele gekommen; die Fortschritte dieses wichtigen Zweiges der
mathematischen Physik werden leider immer noch durch analytische Schwierigkeiten
aufgehalten. Wenn es aber auch noch nicht möglich ist, zusammengesetzter Fälle auf
directem Wege zu untersuchen, so kann man sie doch theilweise den einfacheren
Fällen, für welche die Formeln bekannt sind, anpassen, und auf solche Weise
angenäherte Ergebnisse ableiten, welche zwischen gewissen Gränzen genaue Folgerungen
zulassen und in der Technik mit Nutzen angewendet werden können. Um dieses näher
nachzuweisen, nehme ich als Beispiel die Untersuchung der Verhältnisse, welche
zwischen der Stärke und der Krümmung der Dampfkessel bestehen müssen.
Ein Kessel, in welchem Dampf von hoher Spannung erzeugt werden soll, besteht
gewöhnlich aus gewalztem Eisenblech; seine Gestalt ist die eines geraden Cylinders,
an beiden Enden durch Kugelhauben geschlossen, deren Höhe oder Pfeil eine sehr
verschiedene Größe besitzt, vom Halbmesser des Cylinders an bis zu ein Drittheil
dieses Halbmessers. Bei jeder neuen Construction eines solchen Apparates muß man die
Frage stellen: welche Dicke muß man der Wand des cylindrischen Körpers und den
beiden Kugelhauben geben, damit die Elasticitätsgränze des Metalles in keinem Punkte
der Umhüllungsfläche erreicht werde, wenn diese Fläche dem Drucke des Dampfes
ausgesetzt ist, und welche Krümmung müssen die kugelförmigen Böden erhalten, wenn
Verbiegungen vermieden werden sollen?
Diese Fragen können durch die mathematische Theorie der elastischen Körper
beantwortet werden, und diese führt auf sehr einfache Regeln, welche frei von aller
Empirie sind. Sie setzen zwar eine vollkommene Homogeneität (Gleichartigkeit) der
festen Hülle voraus; man kann aber leicht die aus diesem unerreichbaren Maaße der
Vollkommenheit folgenden Ergebnisse in der Anwendung dadurch verbessern, daß man die
Zahl welche die Festigkeit oder den Widerstand des angewendeten Metalles ausdrückt,
vermindert. Um die Regeln, von denen es sich handelt, auszusprechen, sind einige
Erklärungen nothwendig.
Wenn ein Kessel für hohen Druck in Wirksamkeit ist, so nennt man den Ueberschuß des
Dampfdruckes über den Druck der atmosphärischen Luft den wirksamen Dampfdruck. Man drückt ihn gewöhnlich in Atmosphären aus, und
wenn man den Quadrat-Millimeter für die Einheit der Fläche, das Kilogramm für
die Einheit der Kraft oder des Druckes nimmt, so hat man den Zahlenwerth für den
wirksamen Druck des Dampfes, wenn man die um eine Einheit verminderte Anzahl von
Atmosphären, welche die Spannung des Dampfes bezeichnet, durch 100 dividirt.
Die Festigkeit des Metalles, aus welchem der Kessel gebildet ist, wird durch eine
gewisse Anzahl von Kilogrammen für jeden Quadrat-Millimeter des Querschnittes
ausgedrückt; diese Zahl ist ein ziemlich kleiner Bruchtheil von dem absoluten
Widerstand desselben gegen das Zerreißen, und selbst des Widerstandes an der Glänze
der vollkommenen Elasticität. Für Eisenblech von mittlerer Güte ist die absolute
Festigkeit ungefähr 22 Kilogr., die Gränze der Elasticität wird mit 7 1/2 Kil.
erreicht, und in der Anwendung setzt man diese Zahl gewöhnlich auf 2,6 Kil. herab,
um das auszudrücken, was ich nutzbaren Widerstand des
Metalles (résistance du métal)
nennen will, nämlich denjenigen Widerstand, auf welchen mit Sicherheit zu rechnen
ist, da eine Gefahr entstehen kann, wenn diese Gränze in mehreren Theilen der
Umhüllung überschritten wird. Es würde zu weit führen, hier die verschiedenen Gründe
dieser bedeutenden Verminderung auseinanderzusetzen; sie beruht theils auf der
Erhitzung des Metalles, theils auf dem Einfluß der längern Dauer des Druckes, ferner
auf dem Mangel an stetigem Zusammenhang des Metalles, welcher aus der Art der
Verbindung der verschiedenen Theile des Kessels hervorgeht, auf der physischen
Beschaffenheit des gewalzten Bleches u.s.f.
Nachdem der wirksame Druck und der nutzbare Widerstand des Metalles auf diese Weise
erklärt, und ihre Zahlenwerthe bekannt sind, so lassen sich die von der mathematischen Theorie der
elastischen Körper gegebenen Regeln zur Bestimmung der Wanddicke des Cylinders und
der gewölbten Böden in folgender Weise aussprechen:
Wenn der Kessel in Wirksamkeit sich befindet, so ist der cylindrische Theil desselben
Stauungen und Dehnungen unterworfen, deren Intensität und Richtung sich von einem
Punkte zum andern ändert. Die Theorie gibt diese Größen und ihre Veränderungen; sie
zeigt an, daß die größte Wirkung, welcher sich das Metall zu unterziehen hat, eine
Dehnung ist, die in dem mittleren Querschnitt tangential zu dem Umfang des Cylinders
ausgeübt wird. Diese größte Dehnung darf höchstens dem nutzbaren Widerstand des
Metalles gleich werden, und dazu findet man mit der Beachtung, daß die Dicke des
Bleches immer sehr klein seyn wird gegen den Halbmesser des Cylinders, die Regel,
daß das Product aus der gesuchten Dicke in den nutzbaren
Widerstand des Metalles größer seyn muß, als das Product aus dem Halbmesser des
Cylinders in den wirksamen Druck.
Unter denselben Umständen ist auch der kugelförmige Boden innern Wirkungen von
verschiedener Intensität und Richtung ausgesetzt. Die größte derselben ist wieder
eine Dehnung, welche in der Achse des Systems tangential zur Kugelfläche
hervorgerufen wird, und damit diese Dehnung nicht den nutzbaren Widerstand des
Metalles übertrifft, genügt es, daß das Product aus der
doppelten Dicke des Bodens in den nutzbaren Widerstand größer ist, als das
Product aus dem wirksamen Druck in den Krümmungshalbmesser der
Kugelhaube.
Damit aber die Anwendung dieser beiden Regeln keinen Zweifel über ihren Werth
bestehen läßt, muß die Verbindung des Cylinders und der sphärischen Bodenstücke
einer wesentlichen Bedingung genügen, welche eine dritte Regel bildet, die wichtiger
ist als die beiden vorhergehenden.
Diese letztern setzen nämlich verdeckt voraus, daß man den Hauptkörper als einen
abgesonderten Theil eines unbegränzten hohlen Cylinders betrachten könne, und jeden
Boden, als wenn er einer vollständigen hohlen Kugel angehöre, oder vielmehr, daß der
Cylinder wenigstens in seinem mittleren Theile dem unbegränzten cylindrischen
Systeme ähnlich sey, und daß sich jeder Boden wenigstens gegen seinen Mittelpunkt
hin in demselben Zustande befinde, wie in der ganzen Kugel. Diese doppelte
Voraussetzung wird aber nur zulässig seyn, wenn aus der Verbindung der den beiden
Systemen entlehnten Theile solche Wirkungen für einen jeden derselben entspringen,
wie sie von dem weggenommenen Theile des entsprechenden Systems ausgeübt würde.
Aber auf der einen Seite dehnt sich in dem unbegränzten Cylinder, wenn der Dampf
seinen Druck ausübt, jede concentrische Schichte der Wand aus und strebt sich von
der Achse zu entfernen, um eine Größe, welche die Theorie bezeichnet; auf der andern
Seite dehnt sich auch in der vollständigen hohlen Kugel die Basis der Kugelhaube,
die als Boden dienen soll, aus, und strebt sich von der Achse zu entfernen, um eine
Größe, die im Allgemeinen von der ersten verschieden ist. Diese Verrückungen, obwohl
außerordentlich klein und kaum einige Hundertel Millimeter betragend, haben
nichtsdestoweniger wesentliche Werthe; wenn diese Werthe eine Aenderung erleiden,
dann bringen der Druck auf die Wände und die allgemeinen Spannungen, welche sich
daraus ergeben, in den abgesonderten Theilen der beiden in Verbindung tretenden
Systeme nicht mehr dieselben Wirkungen hervor, als vor der Trennung von ihren
Systemen.
Wenn nun die von zwei verschiedenen Systemen abgesonderten Theile in einer Weise
verbunden sind, welche die Unveränderlichkeit ihrer Berührung sichert, so kommt es
darauf an, daß die Verrückungen, welche die beiden in Berührung tretenden Flächen in
ihren entsprechenden Systemen erleiden würden, bei dieser Verbindung nahezu
dieselben bleiben; denn wenn sie sich gegenseitig hinderten, wenn die eine durch die
gezwungene Verbindung vermehrt, die andere vermindert würde, so ergäben sich daraus
in der festen Hülle fremde und schädliche Wirkungen, welche die Seitenlinien des
Cylinders zu krümmen und den Widerstand der Kugelscheibe zu vermindern strebten.
Man kann diese Art der Verbindung mit der Berührung zweier Curven vergleichen, für
welche es nicht genügt, daß diese durch denselben Punkt gehen; sie müssen vielmehr
noch dieselbe Tangente gemeinschaftlich haben, damit man sie in der Nähe des
gemeinschaftlichen Punktes als zusammenfließend oder in einander übergehend ansehen
kann. Auf gleiche Weise genügt es nicht, daß der gewölbte Boden mit dem
cylindrischen Theile des Kessels dauerhaft vereinigt sey; es müssen sich auch die
den Verbindungsflächen zunächst liegenden Punkte vermöge der Elasticität noch eben
so verrücken, als wenn jeder der beiden Theile frei wäre, oder noch seinem
ursprünglichen Systeme angehörte, damit eine innige
Verbindung (osculation) oder vielmehr eine gegenseitige Ausgleichung (compensation mutuelle) stattfindet, d.h. damit jeder der beiden verbundenen Theile
durch die Wirkungen, welche er auf den andern ausübt, nahezu die Wirkungen ersetzt,
welchen dieser andere in seinem vollständigen Systeme unterworfen wäre.
Entwickelt man darnach die analytische Bedingung dieser Compensation, so findet man
annäherungsweise, daß der dreifache Krümmungshalbmesser des
Bodens, dividirt durch die Dicke desselben, dem siebenfachen Halbmesser des
Cylinders, dividirt durch die Wanddicke, gleich seyn muß. Wenn demnach z.B.
die Dicke des Bleches dieselbe ist für den Cylinder, wie für die beiden Böden, so
muß der Krümmungshalbmesser eines solchen kugelförmigen Bodens den Halbmesser des
Cylinders 2 1/3mal enthalten, oder der Pfeil, die Höhe desselben ungefähr einem
Drittheil dieses Halbmessers oder einem Sechstheil des Durchmessers gleich seyn.
Wäre dagegen der Boden eine Halbkugel, so müßte für das Stattfinden jener
Compensation die Dicke des Cylinders 2 1/3mal so groß seyn als die Dicke eines
Bodens.
Man bemerkt, daß diese dritte Regel von dem wirksamen Drucke und von der Festigkeit
des Metalles unabhängig ist, so daß, wenn die Krümmung und Dicke eines Kessels nach
dieser, so zu sagen, geometrischen Regel bestimmt sind, man irgend ein beliebiges
Metall anwenden, und die Spannung des Dampfes zwischen hinreichend weiten Glänzen
vermehren oder vermindern kann, ohne daß die dampfdichte Verbindung des Cylinders
und der gewölbten Böden eine Verletzung erleiden und eine Gefahr veranlassen wird.
Diese Eigenschaft der Unabhängigkeit erhebt in einer Beziehung das System eines
cylindrischen Kessels mit kugelförmigen
Compensations-Böden zum Range natürlicher Formen oder Körper von
gleichem Widerstande.
Die drei Regeln, welche ich hier ausgesprochen habe, dürfen indessen nur als eine
erste Annäherung betrachtet werden; wenn die Mathematiker die analytischen
Schwierigkeiten, auf welche die Theorie der elastischen Körper stößt, besiegt haben,
so wird man auch den Fall einer cylindrischen Hülle mit kugelförmigen Endflächen
behandeln können, und die vollständigeren Formeln finden. Die Regeln, die ich heute
gebe, stellen gleichsam deren erste Glieder vor; sie sind übrigens für die
technische Anwendung sehr genügend.
Zusatz
„über die Formeln von Navier für die Biegung
gekrümmter Stäbe.“
Dem vorhergehenden Aufsatz läßt der Verfasser in den Comptes
rendus, Februar Nr. 8, eine Bemerkung folgen, worin er erklärt, daß die
beiden ersten seiner drei Regeln, wie ihm von Hrn. Piobert bemerkt worden, längst bekannt seyen, und sich sehr natürlich aus
einem bekannten Princip der Hydrostatik ableiten ließen; Hr. Piobert habe sie schon längst bei verschiedenen Untersuchungen benützt und
durch zahlreiche Versuche bestätigt. Die dritte der vorhergehenden Regeln aber,
welche der Verfasser bei weitem als die wichtigste betrachte, und die auch den
Hauptgegenstand des vorstehenden Aufsatzes bilde, sey gänzlich neu, sowohl nach
ihrem Ausspruch, wie nach ihrem Princip; er habe es übrigens für nützlich gehalten,
zu bemerken, daß die beiden ersten Regeln sich sehr einfach aus der mathematischen
Theorie der elastischen Körper ableiten lassen und in gewisser Beziehung zur
Bestätigung dieser Theorie dienen. – Daß jene beiden Regeln auch bei uns
längst bekannt sind, zeigen fast alle Lehrbücher der Hydrostatik, und insbesondere
der Artikel: „Dampfkessel“ in Prechtl's technologischer Encyklopädie; eine etwas vollständigere Theorie
als gewöhnlich findet man in Navier's: Résumé des leçons sur l'application de
la mécanique etc., wiewohl auch diese noch sehr viel zu wünschen
übrig läßt, und die Theorie von Lamé, von welcher
derselbe im Vorhergehenden die Resultate vorgelegt hat, eine fühlbare Lücke, wenn
auch nicht ausfüllen, doch etwas vermindern dürfte.
Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, auf die von Lamé berührten Schwierigkeiten in der Theorie der elastischen
Körper zurück, zukommen und einen Fall näher zu besprechen, der in dem genannten
Werke von Navier zum erstenmal anwendbar behandelt, dessen Auflösung aber gänzlich
verfehlt ist, was meines Wissens bisher noch von Niemanden berührt wurde,
obgleich sich dieses Werk schon seit 1826 in den Händen der Gelehrten befindet;
dieser Fall betrifft die Untersuchung der Gestalt, welche von
Natur krumme Stäbe annehmen, wenn sie durch Belastung anders gekrümmt
werden.
Die Theorie der elastischen Körper geht nämlich in ihrer speciellen Durchführung
nicht viel über die Untersuchung der Gestalt, welche gerade
prismatische Stäbe durch äußere Kräfte annehmen, hinaus, da schon die
Untersuchung der Gestalt, welche von Natur krumme Stäbe von constantem normalem Querschnitte annehmen, auf unübersteigliche
Hindernisse stößt, selbst wenn die Krümmung dieser Stäbe nur eine einfache ist und auch der Biegung eine einfache bleibt.
Diese Schwierigkeit rührt daher, daß wir den Stab in Zustande des Gleichgewichtes
betrachten, also wenn er seine neue unbekannte Gestalt angenommen hat, und daß wir
die Lage eines seiner Punkte vor und nach der Biegung nur durch die Länge des
zwischen ihm und einem festen Punkte liegenden Bogens vergleichen können, die selbst
wieder strenge genommen von den biegenden Kräften abhängt.
Textabbildung Bd. 116, S. 7
Ist z.B. ein Stab AB in A horizontal fest eingeklemmt, und wird durch eine in B angreifende Kraft R
gebogen, so wird er etwa die Form AB
' annehmen, und der Bogen AB
' genau genommen kürzer oder länger seyn als AB, je nachdem die tangentiale Wirkung der
Kraft R mehr eine stauende oder mehr eine dehnende
ist, und dasselbe Verhältniß wird zwischen den Bogen AM und AM
' stattfinden. Vernachlässigen wir aber auch diese sehr
kleine Veränderung in der Länge des Stabes, und setzen wir voraus, daß sowohl
die Bogenlängen AB und AB', als AM
und AM' gleich seyen, so haben wir immer noch
zur Bestimmung der neuen Gestalt des Stabes zwei Differentialgleichungen erster
und zweiter Ordnung, worin sowohl die veränderlichen Coordinaten der gegebenen
Gestalt, als die der neuen unbekannten Gestalt und die Differentialquotienten
der letztern enthalten sind, die also nur integriert werden können, wenn die
einen oder die andern Veränderlichen eliminirt worden sind, was allgemein als
unausführbar erscheinen dürfte. Auf keinen Fall kann aber zugegeben werden, daß
man, um dieser Schwierigkeit auszuweichen, die gegebene Gestalt des Stabes für
die neue, oder die ursprüngliche Lage eines seiner Punkte statt der neuen Lage
desselben nimmt, wie es Navier gethan hat (première partie §. 447), wie gering
auch die Biegung des Stabes angenommen werden mag. Bezeichnet man nämlich wie
Navier mit:
x
y
die Coordinaten des Punktes M
in der gegebenen Curve AB,
x'y'
„ „
„ „ M'
in der neuen Curve A
B',
ab
„ „
„ Endpunktes
B der gegebenen Curve,
a'b'
„ „
„ „
B' der gesuchten Curve,
s
die gemeinschaftliche Länge der Bogen AM
und A
M',
ρ
den Krümmungshalbmesser der Curve AB in
M,
ρ'
„ „ „ der
Curve A
B' in M',
ε
das Biegungsmoment des Stabes in Bezug auf eine durchden Schwerpunkt
des Querschnittes senkrecht zur Krümmungsebenegelegte Achse,
so erhält man einerseits als Moment des Widerstandes, den der
Stab bei eingetretenem Gleichgewicht der weitern Biegung entgegensetzt, den
Ausdruck:
ε (1/ρ' – 1/ρ);
Textabbildung Bd. 116, S. 8
auf der andern Seite aber wird das Moment der Kraft R, die man in ihre rechtwinkligen, den
Coordinaten-Achsen parallelen Componenten P
und Q zerlegt annehmen kann, wie aus der Figur
leicht zu sehen ist, durch
P (a'
– x') + Q (b' – y')
ausgedrückt, nicht wie Navier
annimmt, durch
P (a
– x) + Q (b – y);
eine Annahme, die auch bei kleinen Biegungen von der Natur
der Sache viel zu weit abweicht, um zugelassen werden zu können. Man kann sich
davon leicht überzeugen, wenn man die von Navier
abgeleiteten Ausdrücke auf die eines geraden Stabes
zurückführen wollte; denn wäre dieser Stab ursprünglich horizontal, oder die
Achse der x längs seiner ursprünglichen Richtung
genommen, seine Gleichung also
y = 0,
so hätte man auch b = 0, die
Komponente Q hätte gar keinen Einfluß auf die neue
Gestalt des Stabes, und es ist überhaupt augenfällig, daß die genannten Formeln für
diesen einfachsten Fall zu keinem richtigen Ergebnisse führen können, daß sie also überhaupt nicht brauchbar sind.
Die richtige Gleichung für das Gleichgewicht ist:
a) ε (1/ρ'
– 1/ρ) = P
(a' – x') + Q (b' – y'),
in welcher der Werth von 1/ρ mittelst der Gleichung der gegebenen Curve in Function der Veränderlichen
x und y eingeführt
werden kann, und welche dann noch mit der Bedingungsgleichung
b) 1 + (dy/dx)² = (dx'/dx)² + (dy'/dx)²
zu verbinden wäre, um die Veränderlichen x und y oder deren
Differentialquotienten zu eliminiren, d.h. in Function der Veränderlichen x', y' und ihrer Differentialquotienten auszudrücken,
oder umgekehrt diese durch jene, was übrigens im Allgemeinen nicht ausführbar ist,
und die directe Auflösung unserer Aufgabe bei dem jetzigen Zustande der Analysis
unmöglich macht.
Setzen wir aber voraus, wie dieß auch Navier thut, daß der
Stab schon anfänglich nur mäßig gekrümmt sey, und daß auch die fernere Krümmung oder
Biegung die Gestalt des Stabes nur wenig verändere, so können wir uns der Lösung
unserer Aufgabe in folgender Weise nähern.
Man setze zuerst die Gleichungen:
x' = x +
α, y' = y + β,
worin nach unserer Voraussetzung α und β gegen x und y verhältnißmäßig
ziemlich klein seyn werden, und führe die Differentialquotienten in Bezug auf x, nämlich:
dx'/dx =
1 + dα/dx, dy'/dx = dy/dx + dβ/dx
in die Bedingungsgleichung (b)
ein, so wird dieselbe:
0 = 2 dα/dx + 2 dβ/dx . dy/dx + (dα/dx)² + (dβ/dx)²
und geht mit Vernachlässigung der sehr kleinen letzten Glieder
über in:
dβ/dαdα/dx . dy/dx + 1 =
0.
Man schließt daraus, daß die Verbindungslinie M
M' der entsprechenden Punkte M und M' nahezu normal ist zu der gegebenen
Curve, daß man also für unsere Voraussetzungen genau genug die Lage des Punktes M' durch eine einzige neue Veränderliche bestimmen kann;
bezeichnet man diese, nämlich die Entfernung MM
' mit u, so hat man nach dieser
Ansicht:
c) x' = x – u dy/ds, y' = y + u dx/ds
und die ersten Ableitungen dieser Werthe in Bezug auf die
Aenderung des Bogens s, nämlich:
d)
dx'/ds = dx/ds – du/ds dy/ds – u
d²y/ds²dy'/ds = dy/ds + du/ds dx/ds + u d²x/ds²
in die Bedingungsgleichung (b)
unter der Form:
(dx'/ds)² + (dy'/ds)² = (dx/ds)² + (dy/ds)² = 1
eingeführt, geben mit Berücksichtigung der ersten Ableitung
derselben:
dx/ds
d²x/ds² + dy/ds
d²y/ds² = 0
und mit Beachtung der Werthe von 1/ρ und 1/ρ² nämlich:
1/ρ = dx/ds d²y/ds² – dy/ds d²x/ds²
und
1/ρ² = (d²x/ds²)² + (d²y/ds²)²
den Ausdruck:
(du/ds)² – 2 u/ρ + u²/ρ² = 0,
welcher, aus lauter sehr kleinen Gliedern bestehend, die
getroffene Annahme rechtfertigt, und die Gränzen der dadurch erhaltenen Genauigkeit
angibt.
Nehmen wir dann die zweiten Ableitungen der Werthe (c),
indem wir zufolge der vorhergehenden Gleichung in den ersten Ableitungen (d) die letzten Glieder vernachlässigen, so erhalten
wir:
d²x'/ds² = d²x/ds² – d²u/ds² dy/ds – du/ds d²y/ds²
d²y'/ds² = d²y/ds² + d²u/ds² dx/ds + du/ds d²x/ds²
und diese Werthe mit den obigen in den Ausdruck:
1/ρ' – 1/ρ = dx'/ds d²y'/ds² – dy'/ds d²x'/ds² – (dx/ds d²y/ds² – dy/ds d²x/ds²)
substituirt, geben mit Beachtung der vorher bemerkten
Bedingungen, die Gleichung:
1/ρ' – 1/ρ = d²u/ds² + 1/ρ (du/ds)² – u/ρ² –
u/ρ d²u/ds²
oder innerhalb der Gränzen unserer Annäherung:
1/ρ' – 1/ρ = d²u/ds²,
wodurch nun die Bedingungsgleichung (a) für das Gleichgewicht die Form annimmt:
ε d²u/ds² = P (a' – x + u dy/ds) + Q (b' – y – u dx/ds) e)
oder wenn man x als unabhängige
Veränderliche einführt:
ε d²u/dx² = (P (a' – x) + Q (b' – y))(ds/dx)² + u (P dy/dx – Q)ds/dx f)
so daß dieselbe mittelst der Gleichung der gegebenen Curve,
aus welcher man y, dy/dx, ds/dx in Function von x zieht, in eine Differentialgleichung zwischen den
beiden Veränderlichen u und x umgewandelt und als die Auflösung der Aufgabe angesehen werden kann,
obgleich die directe Integration, wegen des Gliedes mit u auf der rechten Seite, nur in ganz besondern Fällen möglich seyn
dürfte.
Wenn der Stab ursprünglich gerade war, und die Achse der x längs seiner ursprünglichen Richtung angenommen wird, so hat man:
y = 0, dy/dx = 0, ds/dx = 1
und demnach, wie dieß seyn muß (Navier, 1re
partie §. 412)
ε d²u/dx² = P (a' – x) + Q (b' – u)
als Bedingungsgleichung für das Gleichgewicht und als
Gleichung zur Bestimmung der neuen Gestalt des Stabes.
Ist die Achse des Stabes in ihrer ursprünglichen Form ein Kreisbogen, so kann man die
Gleichung (e) anwenden, und die Veränderlichen x und y, sowie dx/ds, dy/ds, in
Function des Bogens s oder des entsprechenden
Centriwinkels φ ausdrücken.
Eine weitere Behandlung dieses oder eines andern speciellen Falles würde mich
indessen hier zu weit führen, und mag einem andern Orte vorbehalten bleiben, da
meine Absicht, die Sache zur Sprache zu bringen, mit dem Vorhergehenden erreicht
ist.
G.
Decher.